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Ahmet Oran, Ohne Titel , 2003

Litho­gra­fie und Aqua­tin­ta auf Büt­ten­pa­pier, 100×80,5cm (70×60cm)

Ahmet Orans Gra­fik hat das For­mat eines ange­nä­her­ten Qua­dra­tes auf einem hoch­for­ma­ti­gen Bild­trä­ger. Das Qua­drat ver­mit­telt als geo­me­tri­sche Form mit vier gleich lan­gen Sei­ten Stil­le und ewi­ge Prä­senz. In der Vari­an­te einer ange­nä­her­ten qua­dra­ti­schen Form steckt jene span­nungs­ge­la­de­ne Dyna­mik des Dran­ges nach Ausgeglichenheit.


In der groß­for­ma­ti­gen Litho­gra­fie über­la­gern sich ara­bisch anmu­ten­de Schrift­zei­chen und gestal­ten ein mehr­schich­ti­ges Gebil­de. Figur und Grund las­sen sich nicht klar von­ein­an­der abgren­zen. Die Schrift­zei­chen wer­den von allen Bild­rän­dern ange­schnit­ten. Dadurch dehnt sich ein flir­ren­der Farb­raum aus, der die Bild­gren­zen zu spren­gen scheint. Chif­fren schwe­ben durch das Bild, als ob der Raum von Tönen durch­drun­gen sei. Syn­äs­the­ti­sche Asso­zia­tio­nen ver­knüp­fen Seh­sinn und Hör­sinn. Bei krea­ti­ver Betrach­tung wird der Farb­raum dem­nach zum Klangraum.

Mit­tels sei­ner Gra­fik kom­mu­ni­ziert der tür­ki­sche Künst­ler Ahmet Oran mit den Betrach­ten­den. Was asso­zi­ie­ren wir in der west­li­chen Welt mit ara­bi­schen Schrift­zei­chen, die wir nicht lesen kön­nen? Allah ist groß oder ein Mär­chen aus 1000 und einer Nacht? Ein klä­ren­des Regu­la­tiv in Form von Zei­len oder Absät­zen ist in Orans Gra­fik nicht exis­tent.1 Das Werk wird also auf die Ebe­ne der text­frei­en Orna­men­tik gestellt. Dadurch stellt die Gra­fik einen bestimm­ten Anspruch an die Betrachtenden.


Dem Wie­ner Kunst­his­to­ri­ker Ernst H. Gom­brich zufol­ge gibt es orna­men­ta­le Sti­le, die eine gewis­se Ana­lo­gie mit der Spra­che haben“2. Sei­ne Fra­ge lau­tet nun: Wie kön­nen wir die Ele­men­te von Mus­tern wahr­neh­men, die wir nie gese­hen haben?“3 Dies ist auch der sprin­gen­de Punkt in der Betrach­tung von Orans Gra­fik. Wie kön­nen wir ohne Kennt­nis­se der ara­bi­schen Spra­che her­aus­fin­den, dass es sich um Orna­ment und nicht um Schrift han­delt? Und was kön­nen die­se Orna­men­te uns ver­mit­teln, wenn ihre Inten­ti­on nicht in ihrer Les­bar­keit liegt?


Mit dem Bil­der­ver­bot im Islam erlang­te die Orna­men­tik schon bald eine über­ra­gen­de Bedeu­tung. Die ara­bi­sche Kal­li­gra­fie ent­sprang bereits um das Jahr 700 dem Wunsch, den Koran in der ihm gebüh­ren­den Schön­heit nie­der­zu­schrei­ben. Es ent­wi­ckel­ten sich ver­schie­de­ne Zier­schrif­ten.4

Oft­mals war die von staat­li­cher Sei­te ange­ord­ne­te Abschaf­fung der ara­bi­schen Schrift ein Instru­ment, die ent­spre­chen­den Bevöl­ke­rungs­schich­ten dem kul­tu­rel­len Ein­fluss des Islams zu ent­zie­hen. In der Tür­kei zum Bei­spiel wur­de das latei­ni­sche Alpha­bet bereits in den 1920er-Jah­ren im Zuge der Säku­la­ri­sie­rung nach euro­päi­schem Vor­bild durch­ge­setzt.5 Für Mus­li­me ist der Text des Korans aller­dings nur in der ara­bi­schen Form authen­tisch. Über­set­zun­gen in ande­re Spra­chen gel­ten nicht als ech­ter Text. Daher ist jeder Mus­lim, gleich wel­cher sprach­li­chen Her­kunft, ver­pflich­tet, Ara­bisch zu ler­nen und zu rezi­tie­ren.6

Orans Wer­ke bezie­hen ihre Kraft aus der byzan­ti­ni­schen Tra­di­ti­on des Umgangs mit Far­be im Bild, wonach die­se als Bedeu­tungs­trä­ger fun­giert. Tay­fun Bel­gin schreibt über Orans Gemäl­de: In an age devo­ted to fast and into­xi­ca­ting expe­ri­en­ces it is soot­hing to find an artist who turns to hims­elf as the source of his ener­gy. The pain­tings rise from an inward power and assert them­sel­ves through the strong pre­sence of color in this world.”7


Der medi­ta­ti­ve Bild­raum, Kenn­zei­chen vie­ler groß­for­ma­ti­ger Gemäl­de Orans, wird in die­ser Gra­fik mit ara­bisch anmu­ten­den Zei­chen auf­ge­la­den. In ihrer Gestal­tung nähern sie sich kal­li­gra­fi­schen Ideo­gram­men an, sie erge­ben aber auch für des Ara­bi­schen Kun­di­ge kei­nen Sinn. Die Chif­fren tun nur so als ob. Da sie nicht les­bar sind, fun­gie­ren die Schrift­zei­chen als rei­nes Orna­ment. Ihr pri­mä­res Anlie­gen ist es dem­nach, betrach­tet, kon­tem­pliert oder mit Asso­zia­tio­nen aus­ge­stat­tet, aber nicht gele­sen zu wer­den. Oran bedient sich der ori­en­ta­li­schen Kal­li­gra­fie und Farb­se­man­tik, um eine Meta­pher zu erzeu­gen. Die­se führt uns bei ein­ge­hen­der Betrach­tung in einen ima­gi­nier­ten Raum. Die Gra­fik bringt eine im Gen­re der Ästhe­tik ange­sie­del­te Form von Intro­spek­ti­on zum Ausdruck.

Bio­gra­fie

1957:

gebo­ren in Çan­ak­ka­le, Türkei

1977 – 1980:

Stu­di­um der Male­rei in der Meis­ter­klas­se Prof. Adnan Çoker an der Aka­de­mie der bil­den­den Küns­te, Istanbul

1980 – 1985:

Meis­ter­klas­se für Male­rei, Glas­ma­le­rei und Gra­fik an der Hoch­schu­le für ange­wand­te Kunst in Wien, Prof. Carl Unger

1985 – 1987:

Meis­ter­klas­se Prof. Adolf Frohner

1987:

Diplom­ar­beit an der Hoch­schu­le für ange­wand­te Kunst in Wien



Seit mehr als zwan­zig Jah­ren stellt Ahmet Oran in Ein­zel- und Grup­pen­aus­stel­lun­gen in und außer­halb der Tür­kei aus. Sei­ne Wer­ke sind in Muse­en zeit­ge­nös­si­scher Kunst, zum Bei­spiel im Istan­bul Modern, der Kunst­hal­le Bonn und dem Lentos Kunst­mu­se­um Linz gezeigt worden.
Ahmet Oran lebt in Istan­bul und Wien.

Ein­zel­aus­stel­lun­gen (Aus­wahl)

2005:

MAC Art Gale­rie, Istanbul

2006:

Raum­im­puls, Muse­um Waid­ho­fen an der Ybbs

2008:

Lukas Feicht­ner Gale­rie, Wien

2010:

Ram­pa, Istanbul

2012:

Haus Witt­gen­stein, Bul­ga­ri­sches Kul­tur­in­sti­tut, Wien

Pro­ve­ni­enz

Die Gra­fik ging als Schen­kung des Künst­lers im Jahr 2003 in die Samm­lung ein.

Lite­ra­tur

Ahmet Oran, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, Neue Gale­rie der Stadt Linz, Linz 1999.
Ahmet Oran. Resim­ler 2003 – 2004, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, Moza­ik Design, Istan­bul, Istan­bul 2004.
Ahmet Oran, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, Haus Witt­gen­stein, Bul­ga­ri­sches Kul­tur­in­sti­tut, Wien 2012. 

  1. Ernst H. Gombrich, Ornament und Kunst. Schmucktrieb und Ordnungssinn in der Psychologie des dekorativen Schaffens, Stuttgart 1982, S. 158: Nach Gombrich benötigt eine Schrift einen „gewissen Ordnungssinn“, der beim Setzen von Schrift beachtet werden sollte, um die Lesbarkeit zu garantieren: „Das Trennen von Worten, die Einteilung in Absätze, die Mittel der Betonung durch Großbuchstaben oder gesperrte Schrift sind alles Beweise für die Rolle der Unterbrechung beim Setzen von Akzenten und beim Erwecken der Aufmerksamkeit. [… Dazu gehört auch] die entscheidende Erfindung der Zeile. Wie auch immer die Richtung sein möge, in der die Schriftzeichen aufgereiht sind, von links nach rechts, von rechts nach links, abwechselnd, oder von oben nach unten, sogar – ausnahmsweise – als Spirale, jede geformte Schrift erleichtert das Auf-Lesen einander folgender Symbole, die in solch einfacher Weise aneinandergereiht sind. Ordnung und Bedeutung wirken zusammen.“
  2. Ebd., S. 118. Gombrich bezieht sich hier auf die maurische kalligrafische Kunst in Andalusien und erklärt in der Folge: „Die Alhambra sähe ganz anders aus, wenn nicht immer wiederholte Muster so leicht zu restaurieren wären.“
  3. Ebd.
  4. Vgl. Walter M. Weiss, Islam, DuMont Schnellkurs Bd. 518, Köln 2003, S. 101.
  5. Beim Turkologischen Kongress des Jahres 1926 wurde in Baku (Aserbaidschan) vereinbart, dass das arabische Alphabet durch das lateinische zu ersetzen sei.
  6. Vgl. Peter Heine, Islam zur Einführung, Hamburg 2003, S. 37.
  7. Tayfun Belgin, „The Trail Leads Inwards. A few lines for the artist Ahmet Oran“, in: Ahmet Oran. Resimler 2003–2004, Ausstellungskatalog, Mozaik Design, Istanbul, Istanbul 2004. S. 4.

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