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Oran Ahmet Ohne Tite1l

SAMSUNG CSC

OHNE TITEL, 2003
Lithografie und Aquatinta auf Büttenpapier,
100 x 80,5 cm (70 x 60 cm)

Ahmet Orans Grafik hat das Format eines angenäherten Quadrates auf einem hochformatigen Bildträger. Das Quadrat vermittelt als geometrische Form mit vier gleich langen Seiten Stille und ewige Präsenz. In der Variante einer angenäherten quadratischen Form steckt jene spannungsgeladene Dynamik des Dranges nach Ausgeglichenheit.

In der großformatigen Lithografie überlagern sich arabisch anmutende Schriftzeichen und gestalten ein mehrschichtiges Gebilde. Figur und Grund lassen sich nicht klar voneinander abgrenzen. Die Schriftzeichen werden von allen Bildrändern angeschnitten. Dadurch dehnt sich ein flirrender Farbraum aus, der die Bildgrenzen zu sprengen scheint. Chiffren schweben durch das Bild, als ob der Raum von Tönen durchdrungen sei. Synästhetische Assoziationen verknüpfen Sehsinn und Hörsinn. Bei kreativer Betrachtung wird der Farbraum demnach zum Klangraum.

Mittels seiner Grafik kommuniziert der türkische Künstler Ahmet Oran mit den Betrachtenden. Was assoziieren wir in der westlichen Welt mit arabischen Schriftzeichen, die wir nicht lesen können? Allah ist groß oder ein Märchen aus 1000 und einer Nacht? Ein klärendes Regulativ in Form von Zeilen oder Absätzen ist in Orans Grafik nicht existent.[1] Das Werk wird also auf die Ebene der textfreien Ornamentik gestellt. Dadurch stellt die Grafik einen bestimmten Anspruch an die Betrachtenden.

Dem Wiener Kunsthistoriker Ernst H. Gombrich zufolge gibt es ornamentale Stile, die eine gewisse Analogie mit der Sprache haben“[2]. Seine Frage lautet nun: Wie können wir die Elemente von Mustern wahrnehmen, die wir nie gesehen haben?“[3] Dies ist auch der springende Punkt in der Betrachtung von Orans Grafik. Wie können wir ohne Kenntnisse der arabischen Sprache herausfinden, dass es sich um Ornament und nicht um Schrift handelt? Und was können diese Ornamente uns vermitteln, wenn ihre Intention nicht in ihrer Lesbarkeit liegt?

Mit dem Bilderverbot im Islam erlangte die Ornamentik schon bald eine überragende Bedeutung. Die arabische Kalligrafie entsprang bereits um das Jahr 700 dem Wunsch, den Koran in der ihm gebührenden Schönheit niederzuschreiben. Es entwickelten sich verschiedene Zierschriften.[4]
Oftmals war die von staatlicher Seite angeordnete Abschaffung der arabischen Schrift ein Instrument, die entsprechenden Bevölkerungsschichten dem kulturellen Einfluss des Islams zu entziehen. In der Türkei zum Beispiel wurde das lateinische Alphabet bereits in den 1920er-Jahren im Zuge der Säkularisierung nach europäischem Vorbild durchgesetzt.[5] Für Muslime ist der Text des Korans allerdings nur in der arabischen Form authentisch. Übersetzungen in andere Sprachen gelten nicht als echter Text. Daher ist jeder Muslim, gleich welcher sprachlichen Herkunft, verpflichtet, Arabisch zu lernen und zu rezitieren.[6]

Orans Werke beziehen ihre Kraft aus der byzantinischen Tradition des Umgangs mit Farbe im Bild, wonach diese als Bedeutungsträger fungiert. Tayfun Belgin schreibt über Orans Gemälde: In an age devoted to fast and intoxicating experiences it is soothing to find an artist who turns to himself as the source of his energy. The paintings rise from an inward power and assert themselves through the strong presence of color in this world.”[7]
Der meditative Bildraum, Kennzeichen vieler großformatiger Gemälde Orans, wird in dieser Grafik mit arabisch anmutenden Zeichen aufgeladen. In ihrer Gestaltung nähern sie sich kalligrafischen Ideogrammen an, sie ergeben aber auch für des Arabischen Kundige keinen Sinn. Die Chiffren tun nur so als ob. Da sie nicht lesbar sind, fungieren die Schriftzeichen als reines Ornament. Ihr primäres Anliegen ist es demnach, betrachtet, kontempliert oder mit Assoziationen ausgestattet, aber nicht gelesen zu werden. Oran bedient sich der orientalischen Kalligrafie und Farbsemantik, um eine Metapher zu erzeugen. Diese führt uns bei eingehender Betrachtung in einen imaginierten Raum. Die Grafik bringt eine im Genre der Ästhetik angesiedelte Form von Introspektion zum Ausdruck.

Biografie
1957: geboren in Çanakkale, Türkei
1977 – 1980: Studium der Malerei in der Meisterklasse Prof. Adnan Çoker an der Akademie der bildenden Künste, Istanbul
1980 – 1985: Meisterklasse für Malerei, Glasmalerei und Grafik an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien, Prof. Carl Unger
1985 – 1987: Meisterklasse Prof. Adolf Frohner
1987: Diplomarbeit an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien

Seit mehr als zwanzig Jahren stellt Ahmet Oran in Einzel- und Gruppenausstellungen in und außerhalb der Türkei aus. Seine Werke sind in Museen zeitgenössischer Kunst, zum Beispiel im Istanbul Modern, der Kunsthalle Bonn und dem LENTOS Kunstmuseum Linz gezeigt worden.
Ahmet Oran lebt in Istanbul und Wien.

Einzelausstellungen (Auswahl):
2005 MAC Art Galerie, Istanbul
2006 Raumimpuls, Museum Waidhofen an der Ybbs
2008 Lukas Feichtner Galerie, Wien
2010 Rampa, Istanbul
2012 Haus Wittgenstein, Bulgarisches Kulturinstitut, Wien

Provenienz
Die Grafik ging als Schenkung des Künstlers im Jahr 2003 in die Sammlung ein.

Literatur
Ahmet Oran, Ausstellungskatalog, Neue Galerie der Stadt Linz, Linz 1999.
Ahmet Oran. Resimler 2003 – 2004, Ausstellungskatalog, Mozaik Design, Istanbul, Istanbul 2004.
Ahmet Oran, Ausstellungskatalog, Haus Wittgenstein, Bulgarisches Kulturinstitut, Wien 2012.



[1] Ernst H. Gombrich, Ornament und Kunst. Schmucktrieb und Ordnungssinn in der Psychologie des dekorativen Schaffens, Stuttgart 1982, S. 158: Nach Gombrich benötigt eine Schrift einen gewissen Ordnungssinn“, der beim Setzen von Schrift beachtet werden sollte, um die Lesbarkeit zu garantieren: Das Trennen von Worten, die Einteilung in Absätze, die Mittel der Betonung durch Großbuchstaben oder gesperrte Schrift sind alles Beweise für die Rolle der Unterbrechung beim Setzen von Akzenten und beim Erwecken der Aufmerksamkeit. [… Dazu gehört auch] die entscheidende Erfindung der Zeile. Wie auch immer die Richtung sein möge, in der die Schriftzeichen aufgereiht sind, von links nach rechts, von rechts nach links, abwechselnd, oder von oben nach unten, sogar – ausnahmsweise – als Spirale, jede geformte Schrift erleichtert das Auf-Lesen einander folgender Symbole, die in solch einfacher Weise aneinandergereiht sind. Ordnung und Bedeutung wirken zusammen.“
[2] Ebd., S. 118. Gombrich bezieht sich hier auf die maurische kalligrafische Kunst in Andalusien und erklärt in der Folge: Die Alhambra sähe ganz anders aus, wenn nicht immer wiederholte Muster so leicht zu restaurieren wären.“
[3] Ebd.
[4] Vgl. Walter M. Weiss, Islam,DuMont Schnellkurs Bd. 518, Köln 2003, S. 101.
[5] Beim Turkologischen Kongress des Jahres 1926 wurde in Baku (Aserbaidschan) vereinbart, dass das arabische Alphabet durch das lateinische zu ersetzen sei.
[6] Vgl. Peter Heine, Islam zur Einführung, Hamburg 2003, S. 37.
[7] Tayfun Belgin, The Trail Leads Inwards. A few lines for the artist Ahmet Oran“, in: Ahmet Oran. Resimler 2003 – 2004, Ausstellungskatalog, Mozaik Design, Istanbul, Istanbul 2004. S. 4.

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