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G 4846 1
  • G 4846 1
  • Ohne Titel 2012 Wexner Center Columbus

Mag. art.

SEMIABSTRAKT, 1982
Mischtechnik (Bleistift, Kugelschreiber, Farbstifte, weiße Deckfarbe) auf Papier
Inv. Nr. G 4846

Die Kunst muß ein evozierendes Erfinden sein, ebenso geschwind wie das Denken unseres Hirns, welches fähig ist, uns von Kuba nach Bécon les Bruyères zu versetzen, uns auf ein durchgegangenes Pferd oder den Eiffelturm herabspringen zu lassen … während wir Radieschen essen.[1]

Als Ernst Caramelle die vorliegende Zeichnung anfertigte, lebte er in Frankfurt, wo er an der Städelschule unterrichtete. Mehrere Jahre des Aufenthalts in Amerika lagen hinter ihm. In Cambridge, Massachusetts, hatte er sich bereits in den 1970er-Jahren mit Videos beschäftigt und dort frühe und einprägsame Beispiele dieser Kunstrichtung geschaffen, wie z. B. Video-Ping-Pong, 1974. Fragen der Fläche und des Raumes, der Medienkunst und ‑realität sowie Installationen tangieren den Künstler seit nunmehr über vierzig Jahren.

Die Zeichnung scheint auf den ersten Blick nicht mehr als ein Entwurf zu sein. Bleistift- und Farbstiftstriche bedecken das hochformatige Blatt. Am unteren Bildrand sind die Unterschrift des Künstlers und die Betitelung Semiabstrakt vermerkt. In der rechten unteren Ecke ist ein Briefumschlag angedeutet. Er gibt das Entstehungsjahr der Zeichnung mit 1982 an.
Im Zentrum des Blattes wird ein mehrfarbiges raumgreifendes Gebilde sichtbar. Unterschiedlich große Farbquadrate scheinen sich partiell zu überlagern. In dieser raumprojektiven Sicht ragt in der Bildtiefe eine dunkelbraun-graue Ebene auf, die sich von einer mit knappen Bleistiftstrichen anskizzierten schiefen Ebene abhebt. Davor setzen sich blaue, grüne und hellbraune Wandkompartimente durch ihre horizontal verschobene Anordnung voneinander ab. Eine dominante weiße und mehrfach gebrochene Linie scheint liegende und stehende Elemente miteinander zu verbinden. Sie könnte als Stütze der in die Tiefe gestaffelten Wandelemente gesehen werden. Die Zeichnung wirkt wie ein Miniaturtheaterprospekt, wie eine aufgeklappte Bühnenperspektive mit mehreren, sich teilweise überlagernden Bühnenbildern. Erweckt sie zunächst den Eindruck einer flüchtigen Skizze, erweist sich Semiabstrakt bei näherer Betrachtung jedoch als überaus detailreich. Der Künstler hat dies einmal mit den Worten beschrieben: Meine Skizzen, meine Zeichnungen, meine Installationen oder Videobänder haben oft einen Anfangscharakter. Die Skizze ist ja der Anfang von etwas, das man weiterdenken soll – der Betrachter und auch der Künstler.“[2]

Eigentlich ist jede Zeichnung nur zweidimensional: Striche auf einer planen Ebene, einem Blatt Papier. Durch Verkürzungen, Farbabstufungen oder schräge Linien kann es aber gelingen, unser Auge zu täuschen und es scheinbar in die Bildtiefe zu führen. Die perspektivische Darstellung von Architekturen wurde in der italienischen Renaissance zu einem ersten Höhepunkt geführt. Caramelles Zeichnung erinnert an Abbildungen in Architekturtraktaten dieser Zeit, wie sie Leon Battista Alberti, Sebastiano Serlio oder Andrea Palladio veröffentlichten.

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Ernst Caramelle, Ohne Titel, 2012, Pigment auf Dispersion,
Ausstellungsansicht, © Wexner Center for the Arts, Columbus, Ohio

In Projekten, die nach 2010 entstanden sind, überführt Caramelle seine raumgreifenden Konzepte in den dreidimensionalen Ausstellungsraum. So bringt er beispielsweise 2012 im Wexner Center for the Arts in Columbus, Ohio, eine temporäre Wandmalerei an, bei der er mit verschobenen Farbfeldern arbeitet.
In der Ausstellung in der Kunsthalle Krems (13. März bis 19. Juni 2016) arbeitete Caramelle ebenfalls mit einer spannungsreichen Anordnung unterschiedlich getönter Farbflächen, die den Ausstellungsraum dynamisierten. Dabei galt sein besonderes Interesse den Möglichkeiten, den Raum selbst zum Kunstwerk werden zu lassen. Susanne Längle bezeichnet die Raumbezüge in Caramelles Werk als Postarchitektonische Malerei“.[3] Statt Architektur nur zu porträtieren, greift Caramelle nun mit der Setzung farbiger Flächen in einen realen architektonischen Körper und seine räumliche Konfiguration ein. […] Überschneidungen der Farbflächen und deren Staffelung dynamisieren die Fläche in die dritte Dimension und veranlassen das betrachtende Gegenüber, sein Blick kontinuierlich zu justieren und sich in dem engen Zusammenspiel von Bild, Wand und Raum entsprechend neu zu verorten.“[4]

Caramelle gibt uns mit der vorliegenden Zeichnung eine Idee davon, mit welchen Illusionen die Kunst und im Speziellen die Architektur zu arbeiten imstande sind. Semiabstrakt stellt ein frühes Beispiel für ein perspektivisches Raumkonzept dar. Die Zeichnung zeigt aber lediglich die Möglichkeit einer Raumkonstruktion auf, eine realistische Umsetzbarkeit oder Umsetzung in die Architektur ist in den Spielregeln des Künstlers keineswegs festgeschrieben. Sie führt demnach einen Balanceakt zwischen architektonischem Konzept und autonomer Zeichnung vor.

Semiabstrakt kann auch als Studie gesehen werden, die das bildnerische Potenzial von Schrift und Zeichen, Flächen- und Raumprojektion auslotet. Hinsichtlich der Integration von Schrift in bildnerische Werke erinnert diese Zeichnung an die linguistische Tradition der nachdadaistischen Bewegung als auch der konkreten Poesie.“[5] Der Zeichnung Semiabstrakt liegt demnach ein spielerischer, konzeptueller Impetus zugrunde: Ernst Caramelle sucht in der Kunst nicht den absoluten Ansatz: weder die Originalität noch den Ursprung. Er denkt darüber nach, was Kunst sein kann und damit über das Denken in der Kunst.“[6]

Biografie
1952: geb. in Hall in Tirol. Ernst Caramelle verbringt seine Jugendjahre in Brixen im Thale (Tirol) und besucht die Glasfachschule in Kramsach.
1970 – 1976: Studium an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien, u. a. bei Oswald Oberhuber
1972: Aufenthalt am Massachusetts Institute of Technology (MIT), Cambridge, Massachusetts, USA
1974: Research Follow am MIT. Caramelle beschäftigt sich v. a. mit Videokunst.
1975: Rückkehr nach Wien an die Hochschule für angewandte Kunst, wo er in der Sparte Freie Grafik unter Oswald Oberhuber sein Diplom ablegt
1979: Einzelausstellung in der Galerie nächst St. Stephan, Wien
1981: Einzelausstellung im Kunstverein Frankfurt
1981 – 1983: Lehrer an der Städelschule in Frankfurt am Main
1986 – 1990: unterrichtet an der Universität für angewandte Kunst, Wien
1992: Teilnahme an der Documenta IX in Kassel
1993: Ernst Caramelle, Wiener Secession, Wien
1994: Professor für Malerei an der Kunstakademie Karlsruhe
2001: Tiroler Landespreis für Kunst
2008: Ernst Caramelle, Galerie im Taxispalais, Innsbruck
2010: Ernst Caramelle, Bloomberg Space, London
2012: Ausstellung im Wexner Center for the Arts, Columbus, Ohio. Berufung zum Rektor der Kunstakademie Karlsruhe
2013: Wandmalerei in der Kunstpassage Karlsplatz, Wien
2014: Ernst Caramelle. Sans titre, La Salle de bains – Musée d’art contemporain, Lyon
2016: Ausstellungsbeteiligung im Rahmen der Ausstellung Abstrakt – Spatial. Malerei im Raum in der Kunsthalle Krems. Weitere Künstler sind Heinrich Dunst, Herbert Hinteregger, Luisa Kasalicky, Michael Kienzer, Ingo Nussbaumer, Helga Philipp, Gerwald Rockenschaub, Peter Sandbichler, Esther Stocker, Sofie Thorsen und Heimo Zobernig

Konzeptkunst
Die Konzeptkunst entwickelt sich ab Mitte der 1960er-Jahre unter dem Einfluss von Sol Le Witt aus der Minimal Art. Losgelöst von dem materiellen Kunstwerk steht die Idee als rein geistige Konzeption im Mittelpunkt. Sie wird nur noch durch schriftliche Aufzeichnungen, Fotos, Diagramme und Berechnungen dokumentiert und erst durch gedanklich assoziative Prozesse in der Vorstellung des Betrachters existent. Der Künstler selbst bleibt unsichtbar; unerheblich ist auch, ob das erdachte Werk überhaupt realisiert wird. Bedeutende Vertreter der Concept Art sind Robert Barry, Hanne Darboven, Jan Dibbets, On Kawara, Joseph Kossuth und Timm Ulrichs.[7]

Provenienz
Die Grafik wurde 1987 in einer Innsbrucker Galerie erworben.

Literatur
Ernst Caramelle. Blätter. Hg. v. Peter Weiermair. Frankfurter Kunstverein. Wels 1981.

ex.Position. Avantgarde Tirol. 1960 – 1975. Hg. v. Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum. Innsbruck 2005

Abstrakt. Spatial. Malerei im Raum. Hg. v. Verena Gamper und der Kunsthalle Krems. Krems 2016.

Fußnoten
[1] Francis Picabia, zitiert nach: Ernst Caramelle. Blätter. Hg. v. Peter Weiermair. Frankfurter Kunstverein. Wels 1981, o. S.
[2] Das Tiroler Porträt: Der Maler und Graphiker Ernst Caramelle. Nach einem Interview von Wolfgang Pfaundler. In: Das Fenster, Heft 36. Innsbruck 1984, S. 3578ff.
[3] Susanne Längle, Postarchitektonische Malerei“ – Raumbezüge im Werk von Ernst Caramelle“. In: Abstrakt. Spatial. Malerei im Raum. Hg. v. Verena Gamper und der Kunsthalle Krems. Krems 2016, S. 18 – 25, hier S. 18.
[4] Ebd., S. 19.
[5] Vgl. Günther Dankl, Raum und Expansion. Zum Aspekt des Experimentellen und Konzeptionellen bei Raimund Abraham, Ernst Caramelle, Bernhard Leitner, Max Peintner, Walter Pichler und Heinz Tesar“. In: ex.Position. Avantgarde Tirol. 1960 – 1975. Hg. v. Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum. Innsbruck 2005, S. 9 – 51, hier S. 41.
[6] Jean-Christophe Ammann, in: Ernst Caramelle. Blätter. Hg. v. Peter Weiermair. Frankfurter Kunstverein. Wels 1981, o. S.
[7] Der Brockhaus. Moderne Kunst. Vom Impressionismus bis zur Gegenwart. Hg. v. d. Lexikonredaktion des Verlags F. A. Brockhaus. Mannheim/​Leipzig 2003, S. 68.

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