Zum Hauptinhalt springen
Ernst Caramelle, Semiabstrakt , 1982

Misch­tech­nik (Blei­stift, Kugel­schrei­ber, Farb­stif­te, wei­ße Deck­far­be) auf Papier, Inv. Nr. G 4846

  • Ernst Caramelle, Semiabstrakt, 1982
  • Ernst Caramelle, Ohne Titel, 2012

Die Kunst muß ein evo­zie­ren­des Erfin­den sein, eben­so geschwind wie das Den­ken unse­res Hirns, wel­ches fähig ist, uns von Kuba nach Bécon les Bruyè­res zu ver­set­zen, uns auf ein durch­ge­gan­ge­nes Pferd oder den Eif­fel­turm her­ab­sprin­gen zu las­sen … wäh­rend wir Radies­chen essen.1

Als Ernst Cara­mel­le die vor­lie­gen­de Zeich­nung anfer­tig­te, leb­te er in Frank­furt, wo er an der Stä­del­schu­le unter­rich­te­te. Meh­re­re Jah­re des Auf­ent­halts in Ame­ri­ka lagen hin­ter ihm. In Cam­bridge, Mas­sa­chu­setts, hat­te er sich bereits in den 1970er-Jah­ren mit Vide­os beschäf­tigt und dort frü­he und ein­präg­sa­me Bei­spie­le die­ser Kunst­rich­tung geschaf­fen, wie z. B. Video-Ping-Pong, 1974. Fra­gen der Flä­che und des Rau­mes, der Medi­en­kunst und ‑rea­li­tät sowie Instal­la­tio­nen tan­gie­ren den Künst­ler seit nun­mehr über vier­zig Jahren.

Die Zeich­nung scheint auf den ers­ten Blick nicht mehr als ein Ent­wurf zu sein. Blei­stift- und Farb­stift­stri­che bede­cken das hoch­for­ma­ti­ge Blatt. Am unte­ren Bild­rand sind die Unter­schrift des Künst­lers und die Beti­te­lung Semi­abs­trakt ver­merkt. In der rech­ten unte­ren Ecke ist ein Brief­um­schlag ange­deu­tet. Er gibt das Ent­ste­hungs­jahr der Zeich­nung mit 1982 an.


Im Zen­trum des Blat­tes wird ein mehr­far­bi­ges raum­grei­fen­des Gebil­de sicht­bar. Unter­schied­lich gro­ße Farb­qua­dra­te schei­nen sich par­ti­ell zu über­la­gern. In die­ser raum­pro­jek­ti­ven Sicht ragt in der Bild­tie­fe eine dun­kel­braun-graue Ebe­ne auf, die sich von einer mit knap­pen Blei­stift­stri­chen anskiz­zier­ten schie­fen Ebe­ne abhebt. Davor set­zen sich blaue, grü­ne und hell­brau­ne Wand­kom­par­ti­men­te durch ihre hori­zon­tal ver­scho­be­ne Anord­nung von­ein­an­der ab. Eine domi­nan­te wei­ße und mehr­fach gebro­che­ne Linie scheint lie­gen­de und ste­hen­de Ele­men­te mit­ein­an­der zu ver­bin­den. Sie könn­te als Stüt­ze der in die Tie­fe gestaf­fel­ten Wand­ele­men­te gese­hen wer­den. Die Zeich­nung wirkt wie ein Minia­tur­thea­ter­pro­spekt, wie eine auf­ge­klapp­te Büh­nen­per­spek­ti­ve mit meh­re­ren, sich teil­wei­se über­la­gern­den Büh­nen­bil­dern. Erweckt sie zunächst den Ein­druck einer flüch­ti­gen Skiz­ze, erweist sich Semi­abs­trakt bei nähe­rer Betrach­tung jedoch als über­aus detail­reich. Der Künst­ler hat dies ein­mal mit den Wor­ten beschrie­ben: Mei­ne Skiz­zen, mei­ne Zeich­nun­gen, mei­ne Instal­la­tio­nen oder Video­bän­der haben oft einen Anfangs­cha­rak­ter. Die Skiz­ze ist ja der Anfang von etwas, das man wei­ter­den­ken soll – der Betrach­ter und auch der Künst­ler.“2


Eigent­lich ist jede Zeich­nung nur zwei­di­men­sio­nal: Stri­che auf einer pla­nen Ebe­ne, einem Blatt Papier. Durch Ver­kür­zun­gen, Farb­ab­stu­fun­gen oder schrä­ge Lini­en kann es aber gelin­gen, unser Auge zu täu­schen und es schein­bar in die Bild­tie­fe zu füh­ren. Die per­spek­ti­vi­sche Dar­stel­lung von Archi­tek­tu­ren wur­de in der ita­lie­ni­schen Renais­sance zu einem ers­ten Höhe­punkt geführt. Cara­mel­les Zeich­nung erin­nert an Abbil­dun­gen in Archi­tek­turtrak­ta­ten die­ser Zeit, wie sie Leon Bat­tis­ta Alber­ti, Sebas­tia­no Ser­lio oder Andrea Pal­la­dio veröffentlichten.


In Pro­jek­ten, die nach 2010 ent­stan­den sind, über­führt Cara­mel­le sei­ne raum­grei­fen­den Kon­zep­te in den drei­di­men­sio­na­len Aus­stel­lungs­raum. So bringt er bei­spiels­wei­se 2012 im Wex­ner Cen­ter for the Arts in Colum­bus, Ohio, eine tem­po­rä­re Wand­ma­le­rei an, bei der er mit ver­scho­be­nen Farb­fel­dern arbeitet.

In der Aus­stel­lung in der Kunst­hal­le Krems (13. März bis 19. Juni 2016) arbei­te­te Cara­mel­le eben­falls mit einer span­nungs­rei­chen Anord­nung unter­schied­lich getön­ter Farb­flä­chen, die den Aus­stel­lungs­raum dyna­mi­sier­ten. Dabei galt sein beson­de­res Inter­es­se den Mög­lich­kei­ten, den Raum selbst zum Kunst­werk wer­den zu las­sen. Susan­ne Läng­le bezeich­net die Raum­be­zü­ge in Cara­mel­les Werk als Post­ar­chi­tek­to­ni­sche Male­rei“.3Statt Archi­tek­tur nur zu por­trä­tie­ren, greift Cara­mel­le nun mit der Set­zung far­bi­ger Flä­chen in einen rea­len archi­tek­to­ni­schen Kör­per und sei­ne räum­li­che Kon­fi­gu­ra­ti­on ein. […] Über­schnei­dun­gen der Farb­flä­chen und deren Staf­fe­lung dyna­mi­sie­ren die Flä­che in die drit­te Dimen­si­on und ver­an­las­sen das betrach­ten­de Gegen­über, sein Blick kon­ti­nu­ier­lich zu jus­tie­ren und sich in dem engen Zusam­men­spiel von Bild, Wand und Raum ent­spre­chend neu zu ver­or­ten.“4


Cara­mel­le gibt uns mit der vor­lie­gen­den Zeich­nung eine Idee davon, mit wel­chen Illu­sio­nen die Kunst und im Spe­zi­el­len die Archi­tek­tur zu arbei­ten imstan­de sind. Semi­abs­trakt stellt ein frü­hes Bei­spiel für ein per­spek­ti­vi­sches Raum­kon­zept dar. Die Zeich­nung zeigt aber ledig­lich die Mög­lich­keit einer Raum­kon­struk­ti­on auf, eine rea­lis­ti­sche Umsetz­bar­keit oder Umset­zung in die Archi­tek­tur ist in den Spiel­re­geln des Künst­lers kei­nes­wegs fest­ge­schrie­ben. Sie führt dem­nach einen Balan­ce­akt zwi­schen archi­tek­to­ni­schem Kon­zept und auto­no­mer Zeich­nung vor.


Semi­abs­trakt kann auch als Stu­die gese­hen wer­den, die das bild­ne­ri­sche Poten­zi­al von Schrift und Zei­chen, Flä­chen- und Raum­pro­jek­ti­on aus­lo­tet. Hin­sicht­lich der Inte­gra­ti­on von Schrift in bild­ne­ri­sche Wer­ke erin­nert die­se Zeich­nung an die lin­gu­is­ti­sche Tra­di­ti­on der nachda­da­is­ti­schen Bewe­gung als auch der kon­kre­ten Poe­sie.“5 Der Zeich­nung Semi­abs­trakt liegt dem­nach ein spie­le­ri­scher, kon­zep­tu­el­ler Impe­tus zugrun­de: Ernst Cara­mel­le sucht in der Kunst nicht den abso­lu­ten Ansatz: weder die Ori­gi­na­li­tät noch den Ursprung. Er denkt dar­über nach, was Kunst sein kann und damit über das Den­ken in der Kunst.“6

Bio­gra­fie

1952:

geb. in Hall in Tirol. Ernst Cara­mel­le ver­bringt sei­ne Jugend­jah­re in Bri­xen im Tha­le (Tirol) und besucht die Glas­fach­schu­le in Kramsach.

1970 – 1976:

Stu­di­um an der Hoch­schu­le für ange­wand­te Kunst in Wien, u. a. bei Oswald Oberhuber

1972:

Auf­ent­halt am Mas­sa­chu­setts Insti­tu­te of Tech­no­lo­gy (MIT), Cam­bridge, Mas­sa­chu­setts, USA

1974:

Rese­arch Fol­low am MIT. Cara­mel­le beschäf­tigt sich v. a. mit Videokunst.

1975:

Rück­kehr nach Wien an die Hoch­schu­le für ange­wand­te Kunst, wo er in der Spar­te Freie Gra­fik unter Oswald Ober­hu­ber sein Diplom ablegt

1979:

Ein­zel­aus­stel­lung in der Gale­rie nächst St. Ste­phan, Wien

1981:

Ein­zel­aus­stel­lung im Kunst­ver­ein Frankfurt

1981 – 1983:

Leh­rer an der Stä­del­schu­le in Frank­furt am Main

1986 – 1990:

unter­rich­tet an der Uni­ver­si­tät für ange­wand­te Kunst, Wien

1992:

Teil­nah­me an der Docu­men­ta IX in Kassel

1993:

Ernst Cara­mel­le, Wie­ner Seces­si­on, Wien

1994:

Pro­fes­sor für Male­rei an der Kunst­aka­de­mie Karlsruhe

2001:

Tiro­ler Lan­des­preis für Kunst

2008:

Ernst Cara­mel­le, Gale­rie im Taxis­pa­lais, Innsbruck

2010:

Ernst Cara­mel­le, Bloom­berg Space, London

2012:

Aus­stel­lung im Wex­ner Cen­ter for the Arts, Colum­bus, Ohio. Beru­fung zum Rek­tor der Kunst­aka­de­mie Karlsruhe

2013:

Wand­ma­le­rei in der Kunst­pas­sa­ge Karls­platz, Wien

2014:

Ernst Cara­mel­le. Sans tit­re, La Salle de bains – Musée d’art con­tem­porain, Lyon

2016:

Aus­stel­lungs­be­tei­li­gung im Rah­men der Aus­stel­lung Abs­trakt – Spa­ti­al. Male­rei im Raum in der Kunst­hal­le Krems. Wei­te­re Künst­ler sind Hein­rich Dunst, Her­bert Hin­ter­eg­ger, Lui­sa Kasali­cky, Micha­el Kien­zer, Ingo Nuss­bau­mer, Hel­ga Phil­ipp, Ger­wald Rocken­schaub, Peter Sand­bich­ler, Esther Sto­cker, Sofie Thor­sen und Hei­mo Zobernig

Kon­zept­kunst

Die Kon­zept­kunst ent­wi­ckelt sich ab Mit­te der 1960er-Jah­re unter dem Ein­fluss von Sol Le Witt aus der Mini­mal Art. Los­ge­löst von dem mate­ri­el­len Kunst­werk steht die Idee als rein geis­ti­ge Kon­zep­ti­on im Mit­tel­punkt. Sie wird nur noch durch schrift­li­che Auf­zeich­nun­gen, Fotos, Dia­gram­me und Berech­nun­gen doku­men­tiert und erst durch gedank­lich asso­zia­ti­ve Pro­zes­se in der Vor­stel­lung des Betrach­ters exis­tent. Der Künst­ler selbst bleibt unsicht­bar; uner­heb­lich ist auch, ob das erdach­te Werk über­haupt rea­li­siert wird. Bedeu­ten­de Ver­tre­ter der Con­cept Art sind Robert Bar­ry, Han­ne Dar­bo­ven, Jan Dib­bets, On Kawa­ra, Joseph Kos­s­uth und Timm Ulrichs.7

Pro­ve­ni­enz

Die Gra­fik wur­de 1987 in einer Inns­bru­cker Gale­rie erworben.

Lite­ra­tur

Ernst Cara­mel­le. Blät­ter. Hg. v. Peter Wei­er­mair. Frank­fur­ter Kunst­ver­ein. Wels 1981.

ex.Position. Avant­gar­de Tirol. 1960 – 1975. Hg. v. Tiro­ler Lan­des­mu­se­um Fer­di­nan­de­um. Inns­bruck 2005

Abs­trakt. Spa­ti­al. Male­rei im Raum. Hg. v. Vere­na Gam­per und der Kunst­hal­le Krems. Krems 2016.

  1. Francis Picabia, zitiert nach: Ernst Caramelle. Blätter. Hg. v. Peter Weiermair. Frankfurter Kunstverein. Wels 1981, o. S.
  2. Das Tiroler Porträt: Der Maler und Graphiker Ernst Caramelle. Nach einem Interview von Wolfgang Pfaundler. In: Das Fenster, Heft 36. Innsbruck 1984, S. 3578ff.
  3. Susanne Längle, „Postarchitektonische Malerei“ – Raumbezüge im Werk von Ernst Caramelle“. In: Abstrakt. Spatial. Malerei im Raum. Hg. v. Verena Gamper und der Kunsthalle Krems. Krems 2016, S. 18–25, hier S. 18.
  4. Ebd., S. 19.
  5. Vgl. Günther Dankl, „Raum und Expansion. Zum Aspekt des Experimentellen und Konzeptionellen bei Raimund Abraham, Ernst Caramelle, Bernhard Leitner, Max Peintner, Walter Pichler und Heinz Tesar“. In: ex.Position. Avantgarde Tirol. 1960–1975. Hg. v. Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum. Innsbruck 2005, S. 9–51, hier S. 41.
  6. Jean-Christophe Ammann, in: Ernst Caramelle. Blätter. Hg. v. Peter Weiermair. Frankfurter Kunstverein. Wels 1981, o. S.
  7. Der Brockhaus. Moderne Kunst. Vom Impressionismus bis zur Gegenwart. Hg. v. d. Lexikonredaktion des Verlags F. A. Brockhaus. Mannheim/Leipzig 2003, S. 68.

Diese Website verwendet Cookies um das Nutzererlebnis zu verbessern. Mehr dazu