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NUR MUT,1975 bzw. 4.2.1976
Farbstifte auf Papier, 61 x 43 cm

Wenn Birgit Jürgenssen hochhackig die engen Gassen der Wiener Innenstadt durchquerte, fühlte man sich zu ihr hingezogen, bevor man sie noch wirklich wahrnehmen konnte. Ihren Auftritten bei künstlerischen Ereignissen in dieser Stadt oder in fernen Metropolen verlieh sie ihren Stil überzeugender Kunstsinnigkeit.“[1]

Als 8‑jähriges Kind firmierte Birgit Jürgenssen ihre Zeichnungen mit BICASSO“. In ihren späteren künstlerischen Arbeiten nahm sich die Wienerin häufig selbst zum Modell. In der Künstlerinnengruppe DIE DAMEN, deren Mitglied Jürgenssen neben Ona B., Evelyne Egerer und Ingeborg Strobl in den 1990er-Jahren war, stellte sie Fotografien nach und nahm Rollen ein, die in den Ausgangsbildern Männern vorbehalten waren.

Die Zeichnung Nur Mut zeigt eine weibliche Rückenfigur, die in einer wüstenähnlichen Landschaft mit angewinkelten Beinen auf dem Boden sitzt. Das hellblaue Kopftuch und weite, umfängliche Kleider verhüllen ihren Körper. Auf einem Wimpel vor ihr prangt in flammenförmigen Lettern die Parole NUR MUT“. Dieses Motto nimmt auf die völlige Verhüllung der Person Bezug. Jürgenssen bezeichnet es als surreale Praxis, durch Verschleiern sichtbar zu machen“[2]. Um sich ganz in den Dienst einer bestimmten Sache stellen zu können und nicht durch individuelle Details vom Thema abzulenken, kann eine Anonymisierung ebenfalls hilfreich sein.
Die Zeichnung trägt den Untertitel Auf einer Reise braucht man Mut. Die Künstlerin fügte neben der Jahresangabe 1975 noch eine spätere, sehr präzise Datierung hinzu. Diese zweite Datierung weist auf eine vielleicht anlassbezogene Überarbeitung der Zeichnung hin.
Die abgelegte große hellblaue Stofftasche lässt sich als Reisetasche identifizieren. Mut wird die Frau brauchen, denn wenn sie in die Ferne blickt, erkennt sie einen tiefen Abgrund. Ein mächtiger Schlagschatten hat sich außerdem über die Figur gelegt. Aktivität ist gefragt, um aus dieser visuellen Vereinnahmung herauszusteigen und mit dem Hindernis vor ihr in Konfrontation zu treten.

In ihrer Diplomarbeit mit dem Titel zipfeln entwickelt Jürgenssen eine persönliche Bildsprache […] geprägt von einer Ungreifbarkeit, einer perfekten Balance zwischen Aussprechen und Verschweigen“[3]. Die Serie von Zeichnungen kündet von einer latenten Auflehnung gegen die gesellschaftliche Ungleichstellung von Mann und Frau, der die 22-Jährige mit Witz und Ironie Ausdruck verleiht. Die Künstlerin nimmt noch keine intellektuell abgesicherte, feministische Haltung“[4] ein, vielmehr fällt bereits in jungen Jahren ihre seismografische Sensibilität“[5] auf.

Die 1970er-Jahre sind eine Zeit des Umbruchs gesellschaftlicher Normen. Die Geschichte der weiblichen Emanzipation wird auch in Österreich in diesem Jahrzehnt stark vorangetrieben. Das Jahr 1975, in dem unser Blattentstand, ist entscheidend für die Feminismusdebatte in Österreich. Anlässlich des Internationalen Jahres der Frau werden österreichische KünstlerInnen zu einer Ausstellung im Wiener Völkerkundemuseum eingeladen. Die Jury dieser Präsentation setzt sich allerdings ausschließlich aus Männern zusammen. Da der Protest der Frauen ignoriert wird, sagen 46 von ihnen ihre Mitwirkung ab, darunter auch Birgit Jürgenssen. Die engagierte Künstlerin nimmt an der im gleichen Jahr stattfindenden Ausstellung MAGNA – Feminismus: Kunst und Kreativität teil, die von VALIE EXPORT kuratiert wird. Jürgenssen später dazu: Es gab damals einige namhafte männliche Kollegen, die die Kunstszene in Wien dominierten und der Meinung waren, dass Frauen nicht zeichnen oder malen können. Das hat mich herausgefordert, diese Vorstellungen zu unterlaufen, sie zu illustrieren und darzustellen, als was man mich gesehen hat. Es war der Versuch, den Blick, der von außen auf mich eindrang, ernst zu nehmen.“[6]
Jürgenssen zeigt in der Ausstellung neben dem Objekt und den Fotografien der Serie Hausfrauen-Küchenschürze auch Hausfrauenzeichnungen,die mit Boden schrubben oder Bügeln betitelt waren. Das Thema der Hausfrauenarbeit wird im Kunstkalender der DAMEN im Jahr 1991 wieder aufgenommen. Die Hausfrauenzeichnungen stellten einerseits die eigenen Empfindungen dar, aber auch die Situation, so wie sie von außen betrachtet wurde. Ich habe keine Lösungen für das alltägliche Problem angeboten, sondern einen Zustand wiedergegeben.“[7]

In Nur Mut gibt Jürgenssen ebenfalls einen Zustand wieder, nämlich die Passivität, in der ganze Generationen von Frauen feststeckten. Die Zeichnung wäre wie geschaffen gewesen für eine Ausstellung im Völkerkundemuseum in Wien: eine subtile Kampfansage, die auch die Männer durchaus verstanden hätten, wie der Künstlerkollege Peter Weibel bestätigt: In ihren Zeichnungen erscheinen die Körper der Frauen, Mütter und Töchter als unfamiliäre Körper, als Fremdkörper und denunzieren damit die Fremdbestimmung der Frau durch die männliche Kolonisation des weiblichen Körpers, auch in seinen sozialen Funktionen. […] Ihre visuelle Kritik an kulturellen Stereotypen, an der Ethnifizierung und Kolonialisierung der Frau in der kapitalistischen Kultur ist (feministische) Kunst höchsten Ranges.“[8]

In der Zeichnung Nur Mut schickt Jürgenssen eine Frau sprichwörtlich in die Wüste. Sie muss es allein schaffen, aus dem Schatten männlicher Vereinnahmung herauszutreten. Diese bildhafte Ausdrucksweise kann als ein Stilmittel der Abgrenzung von Kunst und Leben gesehen werden. Dazu bemerkt die Künstlerin kurz vor ihrem Tod: „… die Distanz, die in meiner Arbeit wirksam wird, hat damit zu tun, dass ich stark in Rollenklischees aufgewachsen bin und nicht genau wusste, wie ich damit umgehen sollte. Ich war in einem Zwiespalt, wieweit ich in meiner künstlerischen Ausdrucksweise gehen konnte. So habe ich einfach meine Alltagssituationen zeichnerisch oder fotografisch dargestellt. Eine Performance erschien mir zu direkt, ich war einfach auch zu scheu, um öffentlich aufzutreten.“[9]

Befragt zu ihrer Meinung über VALIE EXPORTs öffentliche Kunstauftritte antwortet Jürgenssen: Ich habe ihren Mut bewundert und die Art, wie sie Problematiken in Aktionen umgesetzt hat. Das Tapp-und Tastkino‘ war genial und auch die Aktion, bei der sie Peter Weibel als Hund Gassi geführt hat. Ich habe mich aber stärker im Verhältnis etwa zu Meret Oppenheim oder Louise Bourgeois gesehen, die poetischer waren, weniger direkt und subversiver.“[10]
Birgit Jürgenssen wählte eine metaphorische, aber nicht weniger radikale Ausdrucksweise, um ihre Botschaften zu übermitteln. Sie ließ den Betrachter/​die Betrachterin nicht ganz so nahe an sich heran. Jürgenssen agierte innerhalb eines ästhetisch abgesicherten Kanons, der ihr einen gewissen Schutz bot. Ihre Werke wahrten die gesellschaftlichen Konventionen in formaler Hinsicht vielleicht mehr, als das bei ihren KollegInnen der Fall war, Jürgenssen verstand es dennoch, zielsicher des Pudels Kern zu treffen.

Provenienz
Die Grafik kam nach einer Ausstellung der Mobil Oil Austria AG als Schenkung der Mobil Oil Austria AG im Jahr 1979 in den Besitz der Neuen Galerie der Stadt Linz.

Biografie
1949: Birgit Jürgenssen wird am 10.4. in eine Wiener Arztfamilie geboren
1957: Als achtjähriges Mädchen zeichnet sie Bilder von Pablo Picasso und signiert sie mit BICASSO Jürgenssen“
1963: Mit 14 Jahren fotografiert Jürgenssen Gegenstände, die sie selbst hergestellt hatte
1964: Prix de Français vom Institut Français de Vienne für das Jahr 1963/64
1967: Während ihrer Zeit in Frankreich lernt Jürgenssen die französische Literatur kennen. In der Folge setzt sie sich mit der Psychoanalyse, der Philosophie des Strukturalismus, der Ethnologie von Claude Lévi-Strauss und den gesellschaftskritischen Diskursen ihrer Generation auseinander
1967 – 1971: Studium an der Hochschule für angewandte Kunst in Wien in der Grafikklasse von Franz Herberth
1971: Förderungspreis des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung und den Wolfgang-Hutter-Preis für die Diplomarbeit zipfeln
1972: Heirat mit dem Bildhauer Bernd Hans Klinger
1973: Birgit Jürgenssen beginnt, autodidaktisch künstlerisch schwarz-weiß zu fotografieren
1975: Teilnahme an der Ausstellung MAGNA – Feminismus: Kunst und Kreativität
1978: Einzelausstellung Lineaturen in der Grafischen Sammlung der Albertina
1979: Bekanntschaft mit Hubert Winter, dem Jürgenssen als Lebensgefährtin bis zu ihrem Tode verbunden bleibt
1980: Beginn als Lehrbeauftragte der Meisterklasse Maria Lassnig an der Hochschule für angewandte Kunst Wien
1982: Lehre an der Wiener Akademie der bildenden Künste in der Meisterklasse Arnulf Rainer. Jürgenssen unterrichtet über 20 Jahre an der Akademie im Fach Fotografie, dessen Gründung sie selbst initiiert hatte
1988: Gründung der Künstlerinnengruppe DIE DAMEN mit Birgit Jürgenssen, Ona B., Evelyne Egerer und Ingeborg Strobl, ab 1993 mit Lawrence Weiner statt Ingeborg Strobl. Gemeinsame Performances bis 1995
1994: Kuratiert die Ausstellung Wenn die Kinder sind im Dunkeln, … in der Wiener Secession. Preis der Stadt Wien für bildende Kunst
1996: Künstlerbuch I Met a Stranger gemeinsam mit Lawrence Weiner
2003: gestorben am 25.9.
2014: In Floridsdorf (Wien, 21. Bezirk) wird der Jürgenssenweg nach der Künstlerin benannt

Einzelausstellungen (Auswahl):
1972: Forum Stadtpark, Graz (mit Ingeborg Strobl)
1974: Birgit Jürgenssen. Zeichnungen und Objekte 1971 – 1973, Galerie Schottenring, Wien
1978: Lineaturen, Grafische Sammlung, Albertina, Wien
1980: Der Untergang des Römischen Reiches, Galerie Hofstöckl, Linz
1981: 10 Tage – 100 Fotos, Galerie Hubert Winter, Wien
1987: Sehen, was ist – Living Room, Private Room, Galerie Hubert Winter, Wien
1990: Galerie Paradigma, Linz
1996: I Met a Stranger – Installation zur Präsentation des Künstlerbuches B. Jürgenssen / L. Weiner, Secession, Wien
1997: Sooner or Later, TZ-Art Gallery, New York
1998: Früher oder später, Landesgalerie Linz
1999: Formlos, Galerie Hubert Winter, Wien
2001: ich weiß nicht, Galerie Hubert Winter, Wien
2003: The Mind is a Muscle, Galerie Matthias Kampl, München
2004: Schuhwerk, Museum für angewandte Kunst (MAK), Wien
2006: Birgit Jürgenssen. Fotos, Rayogramme, Polaroids und Solargrafiken aus den 1970er Jahren, Galerie Hubert Winter, Wien
2010: Retrospektive, Bank Austria Kunstforum, Wien
Körperprojektionen aus den 1980er Jahren, Galerie Hubert Winter, Wien
2011: Birgit Jürgenssen, Gemalte Fotografie, Galerie Hubert Winter, Wien

Literatur (Auswahl)
Birgit Jürgenssen. Zeichnungen und Objekte 1971 – 1973, Ausstellungskatalog, Galerie Schottenring, Wien, Wien 1974.

Wenn die Kinder sind im Dunkeln, …, Ausstellungskatalog, Wiener Secession, Wien 1994. 

Birgit Jürgenssen, Lawrence Weiner, I Met a Stranger, Wien – Bozen 1996. 

Birgit Jürgenssen. Früher oder später, Ausstellungskatalog, OÖ. Landesgalerie, Weitra 1998.

Rainer Metzger, Birgit Jürgenssen. Wie erfährt man sich im Anderen, das Andere in sich?‘“, in: Kunstforum, Bd. 164, März – Mai 2003, S. 235 – 247.

Peter Noever (Hg.), Birgit Jürgenssen. Schuhwerk. Subversive Aspects of Feminism“, Ausstellungskatalog, MAK Wien, Wien 2004. 

Gabriele Schor, Heike Eipeldauer (Hg.), Birgit Jürgenssen, Ausstellungskatalog, Bank Austria Kunstforum, Wien, in Kooperation mit der SAMMLUNG VERBUND, München 2010.

Zipfeln. Birgit Jürgenssen, Faksimile der Diplomarbeit, hrsg. v. d. Galerie Hubert Winter Wien, Köln 2011.



[1] Peter Noever, Lust auf Kunst“, in: ders. (Hg.), Birgit Jürgenssen. Schuhwerk. Subversive Aspects of Feminism“, Ausstellungskatalog, MAK Wien, Wien 2004, S. 5 – 6, hier S. 5.
[2] Rainer Metzger, Birgit Jürgenssen. Wie erfährt man sich im Anderen, das Andere in sich?‘“, in: Kunstforum, Bd. 164, März – Mai 2003, S. 235 – 247, hier S. 243.
[3] Bernhart Schwenk, Schutzzone einer Rebellin. Die Diplomarbeit zipfeln‘ von Birgit Jürgenssen“,Beilage zum Faksimile der Diplomarbeit zipfeln, Köln 2011, o. S.
[4] Ebd.
[5] Ebd.
[6] Rainer Metzger 2003, S. 238f. und S. 240, wo Birgit Jürgenssen bekennt: Die Bemerkung, dass Frauen nicht malen können und Künstlerinnen sich am besten über mediale Techniken und Auftritte artikulieren sollten, stammt von Arnulf Rainer.“
[7] Ebd. S. 237.
[8] Peter Weibel, Birgit Jürgenssen oder Körper-Kunst wider die Semiotik des Kapitals“, in: Birgit Jürgenssen. Früher oder später, Ausstellungskatalog, OÖ. Landesgalerie, Linz 1998, S. 83 – 85, hier S. 85.
[9] Rainer Metzger 2003, S. 235.
[10] Ebd., S. 239f.

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