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Nebel Franz Zwei Maenner und Reh

Nebel Franz, Zwei Männer und Reh

ZWEI MÄNNER UND REH, 21.1.1967
Wachskreidezeichnung auf Papier

Im Bildvordergrund äst ein Reh auf weiter Flur. Zwei Männer spazieren über einen dunklen Acker. Ein blau beschatteter Weg führt an der Szenerie vorbei in den Bildhintergrund, wo er ein kleines gelbes Haus umfängt. Dieses wirkt wie ein Boot, das einen kleinen Bach hinunterschippert.

Die Zeichnung gliedert sich in mehrere bildflächenparallele Zonen auf: das gelbe Feld mit dem Reh, der schwarze Streifen mit den zwei im Profil dargestellten Männern, die grüne Zone mit Haus und Bäumen. Die Physiognomie der beiden Protagonisten ist klar erkennbar. Sie scheinen aufmerksam das Vogelhaus am Baum zu betrachten. Ihr Gesichtsausdruck ist beinahe schon übertrieben deutlich dargestellt, wodurch die Zeichnung einen karikierenden Beigeschmack bekommt. Die Kleidung der Männer ist in dunklen Farbtönen gehalten und verbindet sich mit dem gleichfarbigen Bodenstück sowie den Bäumen. Im Faktor der Ähnlichkeit verbinden sich die schwarze Pflanze im Bildvordergrund, das Geweih des Rehs und die ausladenden Äste und Zweige der zwei kahlen Bäume. Das Auge wird dadurch in einem sakkadischen – also ruckartigen – Muster durch die Komposition geführt. Da das Größengefälle vom Reh bis zum Haus etwas überzogen ist, wird die Räumlichkeitswirkung stark beeinträchtigt.

Der Weg bildet eine dominante Bildschräge. Er zerteilt die Darstellung in zwei annähernd gleich große rechtwinkelige Dreiecke. Das mächtige blaue Band des Weges wirkt wie ein Fluss. Es verbindet sich mit dem Blau des Himmels, wodurch die Komposition in die Fläche zurückgebunden wird. Anstatt einen räumlichen Eindruck zu erzielen, kippt die Darstellung in ein Oben und Unten im Sinne einer aufgeklappten Perspektive. Die einzelnen bildflächenparallelen Ebenen interagieren zudem nicht miteinander, sodass die Komposition in drei waagerecht übereinandergestaffelte Streifen zerfällt. Dadurch ähnelt die Zeichnung einem Comicstrip, der mehrere parallel laufende Handlungsstränge schildert.

Franz Nebels Zeichnung wird der Art brut zugerechnet. Als der 51 Jahre alt Mann dieses Blatt anfertigte, war er bereits zum dritten Mal aufgrund einer psychischen Erkrankung im Landeskrankenhaus für Psychiatrie in Klosterneuburg stationiert. Der damalige Leiter der Krankenanstalt, DDr. Leo Navratil, verwendete die Zeichnungen seiner Patienten als Medium der Diagnose. Er beobachtete die Erkrankten während des Zeichnens und versuchte, anhand ihres Schaffensprozesses und der daraus entstandenen Bilder auf die geistige Verfasstheit seiner Patienten zu schließen. Später kamen die Zeichnungen als Konvolut an die Neue Galerie der Stadt Linz, die sich ihrerseits dazu verpflichtete, sie in wechselnder Hängung als Dauerausstellung dem Linzer Publikum näherzubringen.

Art-brut-Zeichnungen erfreuten sich bereits ab den 1950er-Jahren einer steigenden Beliebtheit. Man schätzte an ihnen die große Expressivität und den originären Stil, der sich auf keinerlei Vorbilder zurückführen ließ. Die Künstlergruppe COBRA, zu der unter anderem Karel Appel, Corneille, Asger Jorn und Pierre Alechinsky gehörten, sowie auch Arnulf Rainer haben sich dezidiert mit den Arbeiten von Außenseitern, Kindern und Menschen mit Handicap auseinandergesetzt.

In der Zeichnung Franz Nebels fällt die große Leuchtkraft der Farben auf. Diese wurde durch Komplementärkontraste (z. B. zwischen Gelb und Blau) erreicht. Die formale Komposition führt durch Stilisierung, Deformation (karikierende Physiognomien) und durch die farblichen und formalen Beziehungen der einzelnen Sehdinge untereinander zu einem gesteigerten Ausdruck im Bild. Dadurch erweckt das Bild die Aufmerksamkeit der Betrachtenden. Es lässt uns die Frage stellen, weshalb die beiden Spaziergänger nicht das Reh beobachten, sondern sich lieber dem Vogelhaus zuwenden. Oder umgekehrt: Weshalb flüchtet das scheue Tier nicht beim Herannahen der Menschen? An diesen Fragen scheiden sich die Naturwirklichkeit und die dem Bild zugrunde liegende Wirklichkeit. In dieser Bildrealität“ tritt die Logik der Naturgesetze zugunsten formalästhetischer Kriterien der Bildautonomie ohne weiteren Erklärungsbedarf in den Hintergrund.

Art brut
Bezeichnung, die der Maler Jean Dubuffet für die spontanen, unreflektierten, aus dem Unbewussten sich nährenden künstlerischen Ausdrucksformen von Geisteskranken, Kindern oder Laienmalern fand. Diese dem professionellen Stilwillen des Künstlers entgegengesetzten, anti-künstlerischen‘ Ausdrucksformen der Art brut, die Dubuffet jedoch als schöpferische, wahre Kunst anerkannte und proklamierte, hat er selber als bewusste Stilelemente in seine eigene Arbeit übernommen. Sie wurden von vielen Künstlern aufgegriffen.“[1]

Cobra
Die Künstler-Gruppe Cobra‘ wurde 1948 in Paris gegründet und bestand bis 1951. Der Name Cobra leitet sich ab aus den Anfangsbuchstaben der Städte Kopenhagen, der Heimat des Dänen Asger Jorn, sowie Brüssel für die Belgier Corneille und Alechinsky und Amsterdam für die Holländer Karel Appel und Constant. Die Cobra-Künstler praktizierten eine informelle Malweise, die Elemente der Volkskunst, der Kunst der Primitiven und der Art brut zu einem eigenwilligen spontanen Stil verarbeitete. Cobra‘ wollte – in Angleichung an die Tendenzen des Abstrakten Expressionismus – die Imagination des Unterbewussten ohne die Zensur des reflektierenden Intellekts direkt ins Bild umsetzen.“[2]

Provenienz
Die Wachskreidezeichnung ging als Stiftung des Gugginger Arztes Leo Navratil im Jahr 1980 in den Museumsbestand über.

Biografie
1916: geboren in Niederösterreich
Besuch der Volksschule
Nach dem Schulabschluss wurde Franz Nebel Landwirt.
1938 – 1945: Nebel war Soldat. Er brachte es bis zum Unteroffizier.
Franz Nebel heiratete und hatte zwei Kinder.
1950: Erkrankung an einem organischen Gehirnleiden, aus dem eine paranoid-halluzinatorische Psychose hervorging
Drei Aufenthalte im Landeskrankenhaus Gugging
1966/1967: während des dritten Aufenthalts entstanden mehrere Wachskreidezeichnungen im Krankenhaus
Ab 1968: Nebel lebt in einem Pflegeheim
Er verstarb nach 1975.

Literatur
Otto Breicha (Hg.), Der Himmel Elleno. Zustandsgebundene Kunst. Zeichnungen und Malereien aus dem Niederösterreichischen Landeskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Klosterneuburg, Ausstellungskatalog, Kulturhaus der Stadt Graz, Neue Galerie der Stadt Linz, Graz 1975.

Leo Navratil, Die Künstler aus Gugging, Wien – Berlin 1983.

Sammlung Leo Navratil. Arbeiten aus dem Niederösterreichischen Landeskrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie Klosterneuburg, Ausstellungskatalog, Neue Galerie der Stadt Linz – Wolfgang Gurlitt Museum, Linz 1980.

[1]DuMonts Kunstlexikon des 20. Jahrhunderts. Künstler, Stile und Begriffe, hg. v. Karin Thomas, Köln 2000, S. 29.
[2] Ebd., S. 86.

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