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Herbert Bayer G 1637

Herbert-Bayer-G-1637

Komposition im Raum (Abstraction – Blue), 1928
Feder in Tusche, Aquarell auf Papier, 30 x 46,5 cm

Eine ausgeprägte Sensibilität verbunden mit einer lebhaften Einbildungskraft läßt mich […] in der reichen Vielfalt des Lebens noch unbegrenzte Möglichkeiten für den Künstler sehen.“[1]

Die aquarellierte Tuschezeichnung Komposition im Raum (Abstraction – Blue) ist querformatig. Im Bild ragen sechs Rahmen in unterschiedlichen Farbabstufungen von weiß über beige bis hellblau auf. Wolken füllen die obere Hälfte des blauen Bildgrundes. Auf der Suche nach ähnlichen Sehformen finden sich die mit Tusche konturierten Zeichen von Wolken im Vordergrund des Aquarells. Etwa auf halber Bildhöhe kann die Horizontlinie des blauen Hintergrundes festgemacht werden.
Die innerbildlichen Rahmenformen sind in perspektivischer Verkürzung dargestellt. Sie überschneiden sich und erzeugen ein raumbildendes Davor und Dahinter, wobei lediglich zwei der Rahmenformen visuell nicht fragmentiert sind. Die erste ist bildflächenparallel im Vordergrund angeordnet und kann sich gut auf der blauen Bodenfläche verankern. Die zweite zeigt gleich links daneben durch ihre bildeinwärts führende Verkürzung einen Weg an, durch den der Betrachter in den Bildraum einsteigen kann. Von dort drängt es das Auge weiter: von Rahmen zu Rahmen werden Größen, Farben und Füllungen miteinander verglichen. Auf diese Art und Weise tastet sich das Auge sakkadisch[2] durch das Bild und erschließt es für sich.

Herbert Bayers Komposition im Raum (Abstraction – Blue) wirft grundlegende Fragen zur Darstellungsweise auf. Gegenständlich oder abstrakt? Die einzelnen Bildmotive wie Rahmen und Wolken sind gegenständlich formuliert, in der Zusammenschau führt die Komposition jedoch über die reine Wirklichkeitsdarstellung hinaus. Dem entspricht auch Bayers Ansicht, wonach ein Künstler die Natur nicht nachahmen, sondern eine eigene geistige Welt neben der Natur erschaffen [soll]“.[3] Herbert Bayers künstlerischer Ansatz rekurriert auf die 1920er-Jahre und damit auf seine Zeit als Student und Lehrer am Bauhaus[4] in Weimar und später in Dessau. Als angehender Künstler vertiefte er sich zunächst in Kandinskys Werk Über das Geistige in der Kunst und erlernte farbtheoretische Grundlagen in einem Vorkurs bei Johannes Itten. Er erfuhr dadurch Grundlegendes über die Struktur und den Aufbau von Formen und Farben.
Über stilistische Einflüsse der Bauhaus-Künstler berichtet er: Die meisten von uns erfüllte romantischer Expressionismus. Dadaismus entsprach unserer Ablehnung jeder geheiligten Ordnung. Die Arbeit der Stijl-Gruppe, anziehend in ihrer Reinheit, hatte kurzen formalistischen Einfluß. Der Konstruktivismus trug seinen Teil zum künstlerischen Aufruhr bei, aber die Welt der Maschinenproduktion mit den ihr eigenen Fakten und Funktionen bestimmte schon das Zukunftsbild.“[5]

Durch seine fotografischen Experimente, zu denen auch Fotomontagen zählten, fand Bayer einen Weg aus der rein abbildhaften Darstellung. Er setzte die Kamera als – wie er es nannte – subjektives Gestaltungsmittel“[6] ein. In den daraus resultierenden dynamischen Konzepten“[7] konnte der Künstler einen Gegenstand in einer Vielzahl von Standpunkten“[8] darstellen.

Unsere aquarellierte Tuschezeichnung zeigt verschiedene Rahmenkonstruktionen und Wolkenformationen. Die im Bild wiedergegebenen Wolken stehen in der Ikonografie für Verhüllung und Verschleierung.[9] In unserem Fall stehen sie in direktem Konnex zu den Rahmen, legen einen Blick aus einem Fenster nahe und bilden ein komplementäres Pendant zu den geraden Linien der Rahmenformen.
Bayer vervielfacht das Motiv des Rahmens in seiner Komposition. Die innerbildlichen Rahmen verweisen jedoch jeweils auf eine eigene innerbildliche Realität. Die Vervielfachung des Sujets führt somit zu mehreren Bildern von Bildern in einem Bild und letztendlich zu einem Bruch mit der Bildillusion, zu einer Verfremdung. Kombinatorik und Montagetechnik überführen die Wirklichkeitsausschnitte in eine surreale Komposition.

Etwa zeitgleich (1928÷29) entstand René Magrittes Gemälde Ceci n’est pas une pipe (übers. Das ist keine Pfeife). Die Darstellung einer Pfeife ist mit dem echten Gegenstand nicht ident, denn die im Gemälde dargestellte Pfeife eignet sich nicht zum Rauchen. Maurice Denis ruft uns bereits Ende des 19. Jahrhunderts zur Ordnung: Man erinnere sich, dass ein Bild, bevor es noch ein Schlachtross, eine nackte Frau oder irgendeine Anekdote sein kann, zuallererst eine Fläche ist, auf die in einer bestimmten Ordnung Farben aufgetragen werden.“[10] Bayers innerbildliche Rahmen stellen ebenfalls etwas dar, das einen Rahmen bezeichnet, aber de facto keiner ist. Der Künstler bringt den Rahmen somit von seiner realen Existenz auf die Ebene der Stellvertreterfunktion, der Repräsentation. Surreale Bildwerke stellen Realitätsfragmente gegenständlich dar. Durch eine besondere Art der Kombinatorik (Montagen) werden diese aber in einen neuen Kontext überführt. Surreale Bilder zeigen somit einen neuen Zugang zur Realität auf, der auch Unsichtbares beinhalten kann. Vorstellungen, Träume und Visionen können dadurch Gegenstand von Bildwerken werden.

Herbert Bayer hatte einen ganz besonderen Bezug zur Natur. Er plädierte für die Erhaltung der Wildnis und dafür, Erholungsplätze innerhalb der Gemeinden und im Umkreis der Städte zu schaffen“[11]. Der seit 1938 in Amerika lebende Künstler erkannte bereits in den 1960er-Jahren die Ausbeutung der Rohstoffquellen als Gefährdung der menschlichen Existenz. Komposition im Raum (Abstraction – Blue) könnte man in diesem Sinne als Fenster in die Natur und in die Zukunft gleichermaßen sehen. Der Künstler nimmt die Rolle eines Sehers und Mahners ein: Wo wir der Natur mit Achtung begegnen, wird sie weiterhin magisch und poetisch, schön, wenn auch oft grausam bleiben. […] Natur und Zivilisation können nebeneinander bestehen, wo ihre Grenzen respektiert werden.“[12]

Surrealismus
in den 1910er-Jahren in Paris entstandene, bis in die 1960er-Jahre reichende Strömung in Literatur und bildender Kunst. Der Begriff wurde 1917 von dem Dichter Guillaume Apollinaire geprägt und 1924 von dem Schriftsteller André Breton im ersten Manifest des Surrealismus aufgegriffen, in dem das künstlerisch-ideologische Programm der Bewegung formuliert ist. Der Surrealismus entstand als Reaktion auf den Zusammenbruch traditionell-abendländischer Wertvorstellungen im Ersten Weltkrieg. Ziel war die Wiederherstellung der ursprünglichen Ganzheit des Menschen durch die Befreiung des Geistes aus inneren und äußeren Zwängen. Impulse hierfür kamen von der englischen und deutschen Romantik, dem Symbolismus und dem Dadaismus sowie von den Theorien des Unbewussten der Psychoanalytiker Sigmund Freud und C. G. Jung. Zugang zur Welt des Halb‑, Vor- und Unbewussten, zur Wahrheit von Traum, Wahnsinn und Halluzination, zum Irrationalen und Absurden suchte man im systematischen Selbstexperiment, das Einblicke in die wirkliche Funktionsweise des Denkens (unter Ausschaltung jeder vernunftmäßigen Kontrolle sowie von ästhetischen und moralischen Bedenken) gewähren sollte. Durch die systematische Aktivierung kreativ-spielerischer Möglichkeiten wollten die Surrealisten unvermutet erhellende Zusammenhänge freilegen. Grundlegendes Prinzip des Surrealismus war die Kombinatorik: Das assoziative Vermengen an sich wesensfremder Bildelemente sollte irritierende und befremdende Seherfahrungen auslösen. Dazu wurden die schöpferischen Methoden durch Techniken wie Frottage und Grattage erweitert. Als Hauptvertreter dieser Stilrichtung gelten André Breton, Salvador Dalí, Giorgio de Chirico, Arshile Gorky, Max Ernst, René Magritte, André Masson, Joan Miró, Meret Oppenheim, Francis Picabia, Man Ray und Yves Tanguy.[13]

Fotomontage
Gestalterisches Kombinieren von fotografischen Ausschnitten, in das mitunter auch Schrift, Zeichnung und Farbe einbezogen sind. Die Fotomontage wurde vor dem Aufkommen der Computertechnologie vor allem zur Plakatgestaltung und zur Herstellung von Buchumschlägen verwendet. Als künstlerisches Gestaltungsmittel wurde sie erstmals von den italienischen Futuristen benutzt, dann von den Vertretern der russischen Avantgarde (El Lissitzky, Alexander Rodtschenko) sowie den Dadaisten (Raoul Hausmann, George Grosz, John Heartfield) übernommen und zu einer eigenständigen Kunstform entwickelt. Die Fotomontage diente vor allem den Dadaisten als Instrument des politischen und gesellschaftskritischen Angriffs auf aktuelle Zeitprobleme und bezog ihre provokative Schockwirkung der bildlichen und textlichen Fragmente aus Presse, Werbung und Propaganda, die dann oftmals noch mit satirischen Kommentaren versehen wurden. Die Möglichkeit, durch verfremdende Montage von Fotos das Sinnlose und Abstruse der Realität zu artikulieren, blieb auch nach der Dada-Bewegung eine zentrale Funktion der Fotomontage, die vor allem im Surrealismus als Ausdrucksform der grotesken Übersteigerung weiterentwickelt wurde.[14]

Biografie
1900: am 5. April in Haag am Hausruck als Herbert Wilhelm Bayer geboren
1912: Übersiedlung nach Linz, Besuch des Khevenhüller-Gymnasiums
1915: erste Schülerarbeiten
1916: bereits freie künstlerische Zeichnungen
1917 – 1918: Militärdienst im k. u. k. Infanterieregiment Nr. 14
1919 – 1920: Ausbildung zum Architekten im Atelier von Georg Schmidthammer in Linz. Künstlerische und typografische Entwürfe
1919: Ausstellungsbeteiligung im Rahmen der neu gegründeten Künstlervereinigung Der Ring
1919: Übersiedlung nach Darmstadt, Künstlerkolonie Mathildenhöhe, Volontär bei Architekt Emanuel Margold. Bayer entwirft Verpackungen, kunstgewerbliche Gegenstände, Gebrauchsgrafik
1921 – 1923: Studium am Staatlichen Bauhaus in Weimar. Besuch des Vorkurses bei Johannes Itten, Abteilung Wandmalerei unter Kandinsky. Typografische Arbeiten
1923 – 1924: Reise durch Italien, Malerei
1925: Heirat mit der Bauhaus-Schülerin und Fotografin Irene Hecht
1925 – 1928: Lehrer für Druck und Reklame (ab 1927 werkstatt für typographie und werbsachengestaltung) am Bauhaus in Dessau. Bayer setzte die Kleinschreibung durch und führte die DIN-Normen für Drucksorten ein. Bayers Programm war die Überführung des Konstruktivismus und des Surrealismus in die Reklametechnik und damit in die Ästhetik des Alltags
1928: Eröffnung eines eigenen grafischen Ateliers in Berlin
bis 1938: als Maler, Fotograf, Grafiker, Ausstellungsarchitekt, Werbegrafiker und Leiter der Werbeagentur Dorland in Berlin. Es entstehen Broschüren, Prospekte, Plakate
1929: erste Einzelausstellung in der Künstlervereinigung MAERZ in Linz und in der Pariser Galerie Povolotzki
1930: Gestaltung der Ausstellung des Deutschen Werkbundes in Paris
1931: Gestaltung der Baugewerkeausstellung in Berlin gemeinsam mit Walter Gropius, Marcel Breuer, László Moholy-Nagy. In den Plakaten der 1930er-Jahre kombiniert er zum ersten Mal Grafik, Fotografie und Typografie
1932: Trennung von Irene Bayer-Hecht
1934: mehrmonatige Reise mit Marcel Breuer durch Jugoslawien und Griechenland
1936: Einzelausstellung im Kunsthaus Salzburg. Herausgabe der Mappe Fotoplastiken mit 8 Fotografien. Bayer gestaltet Plakate, Kataloge und Publikationen für die NSDAP
1937: ein Gemälde Bayers wird in der Ausstellung Entartete Kunst verfemt, zwei weitere Arbeiten werden aus deutschem Museumsbesitz beschlagnahmt
1938: Emigration in die USA. Am MoMA in New York gestaltet er die Ausstellung Bauhaus 1919 – 1928. Lernt im Herbst 1938 seine spätere Ehefrau Joella Hawais Levy kennen. Lebt bis 1946 in New York
1939: Einzelausstellung und Lehrauftrag am Black Mountain College, North Carolina
1945: Art Director der Werbeagentur Dorland International
1946 – 1975: in Aspen, Colorado. Architekturaufträge und Gestalter des World Geographic Atlas sowie zahlreicher Ausstellungen über das Bauhaus
1961: Einzelausstellung im Bauhaus-Archiv Berlin
1963: Einzelausstellung in der Neuen Galerie der Stadt Linz
1968: Articulated Wall (Gegliederte Wand) für die Straße der Freundschaft, eine Serie von großen Betonskulpturen im Süden von Mexiko-Stadt für die Olympischen Sommerspiele. Einzelausstellung im Museum für angewandte Kunst, Wien
1973: erhält die Ehrendoktorwürde der Technischen Universität Graz. Entwurf der Skulptur Double Ascension für die Arco Plaza in Los Angeles
1974 und 1978: Retrospektive Herbert Bayer. Das druckgraphische Werk im Bauhaus-Archiv Berlin. 1975 Übersiedlung nach Montecito, Kalifornien
1976: Retrospektive in der Neuen Galerie Linz. Entwurf für die Brunnenskulptur (Orgel-Brunnen) vor dem Linzer Brucknerhaus
1980: Gründungsausstellung des Herbert Bayer Archive and Collection, Denver, Colorado. Die Neue Galerie der Stadt Linz zeigt Fotografien des Künstlers
1985: gestorben am 30. September in Santa Barbara, Kalifornien
1987: Ausstellung Herbert Bayer. Kunst und Design in Amerika 1918 – 1985 im Bauhaus-Archiv Berlin und in der OÖ. Landesgalerie Linz
2000: anlässlich des 100. Geburtstages zeigen die Neue Galerie der Stadt Linz, die Landesgalerie Linz und das Schloss Starhemberg in Haag am Hausruck eine umfangreiche Präsentation aus dem Gesamtwerk
2000/01: Ausstellung Bauhaus: Dessau – Chicago – New York im Museum Folkwang, Essen
2009: Einzelausstellung im LENTOS Kunstmuseum Linz

Provenienz
Die aquarellierte Federzeichnung wurde 1964 direkt aus dem Besitz des Künstlers erworben.

Verwendete Literatur
Herbert Bayer. Visuelle Kommunikation, Architektur, Malerei. Das Werk des Künstlers in Europa und USA, Ravensburg 1967.

Ahoi Herbert! Bayer und die Moderne, hg. v. LENTOS Kunstmuseum Linz, Ausstellung und Katalog v. Elisabeth Nowak-Thaller und Bernhard Widder, Weitra 2009.


[1] Herbert Bayer. Visuelle Kommunikation, Architektur, Malerei. Das Werk des Künstlers in Europa und USA, Ravensburg 1967, S. 11.
[2] Sakkadisches Sehen erfolgt in ruckartigen Bewegungen, mit denen das Auge das Bild visuell abtastet.
[3] Bayer 1967, S. 204.
[4] ebd., S. 10: Die frühen Jahre am Bauhaus wurden das grundlegende Erlebnis für mein späteres Werk.“
[5] ebd.
[6] ebd., S. 11.
[7] ebd.
[8] ebd.
[9] Hans Biedermann, Knaurs Lexikon der Symbole, Augsburg 2000, S. 491f.
[10] Karl Ruhrberg, Manfred Schneckenburger, Christiane Fricke, Klaus Honnef, Kunst des 20. Jahrhunderts, hg. v. Ingo F. Walther, Köln, London, Los Angeles u. a. 2000, S. 22. Als frz. Originaltext veröffentlicht in: Maurice Denis, Théories. 1890 – 1910. Du Symbolisme et de Gauguin vers un nouvel ordre classique, 4. Aufl., Paris 1920.
[11] Bayer 1967, S. 204.
[12] ebd.
[13] Der Brockhaus. Kunst, 2., völlig neu bearb. Aufl., hg. v. d. Lexikonredaktion des Verlags F. A. Brockhaus, Mannheim, Leipzig 2001, S. 1121f.
[14] Karin Thomas (Hg.), DuMonts Kunstlexikon des 20. Jahrhunderts. Künstler, Stile, Begriffe, Köln 2000, S. 137f.

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