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G 1301

G 1301

Tod, Frau und Kind, 1910
Radierung auf Papier, 52 x 68 cm (39 x 39 cm)

Als er [Peter] sieben Jahre alt war und ich die Radierung machte, die Frau mit dem toten Kinde, zeichnete ich mich selbst ihn im Arm haltend im Spiegel. Das war sehr anstrengend, und ich mußte stöhnen. Da sagte sein Kinderstimmchen tröstend: Sei man still, Mutter, es wird auch sehr schön.“(1)

Mutter mit dem toten Kind war eines der wichtigsten Themen im Werk der Künstlerin Käthe Kollwitz. Das Motiv findet sich bereits in den Grafikfolgen Ein Weberaufstand (1893 – 1897) und Bauernkrieg (1903 – 1908) und lässt sich auf mehreren grafischen Einzelblättern bis in das Jahr 1903 zurückverfolgen.
In den frühen Versionen beugt sich die Mutter über den liegenden toten Sohn, umfasst seinen Körper mit beiden Armen. Das christliche Motiv der Pietà mag dafür Pate gestanden haben. 1907 reiste Kollwitz nach Florenz, wo sie sich dank des Villa-Romana-Stipendiums mehrere Monate aufhalten konnte. Anlässlich einer Fahrt nach Siena sah sie Duccio di Buoninsegnas Kreuzabnahme(2). Das Werk ist Teil eines Passionszyklus, der sich auf der Rückseite der Maestà, dem ehemaligen Hochaltarbild im Dom zu Siena, befindet. Man sieht darauf, wie Maria das Haupt des toten Christus an sich drückt, wie ihre Hand seinen Kopf umfängt, während dieser soeben vom Kreuz abgenommen wird.
In der intensiven Beschäftigung mit dem Thema der Mutter mit ihrem toten Sohn veränderte sich nun die Anordnung der beiden Figuren: Der Sohn wird stehend dargestellt und er ist es nun, der sich zur Mutter hinunterbeugt. Diese nimmt nach und nach immer mehr die Züge Käthe Kollwitz’ an. Ihre ausdrucksstarke Hand umklammert den Hals und drückt den Kopf des Kindes mit verzweifeltem Gestus an ihr Gesicht. Sie versucht ihn krampfhaft festzuhalten, der Totenkopf hinter dem Rücken des Sohnes weist jedoch auf die Vergeblichkeit aller Mühe hin. Der Tod als Schatten wirkend oder berührend eine Hand auflegend hinten vorbeigehend. Schemenhaft.“(3) Im Jahr dieser Tagebucheintragung entstand die Radierung Tod, Frau und Kind, die sich im Bestand des LENTOS befindet.
Als hätte sie es vorausgeahnt – der Tod des eigenen Kindes spielte auch im Leben von Käthe Kollwitz eine große Rolle. Die deutsche Künstlerin musste erleben, wie einer ihrer Söhne und ein Enkelsohn auf den Kriegsschauplätzen der beiden Weltkriege verstarben. 1914 starb Peter, der jüngere ihrer beiden Söhne, an der Front in Westflandern. 1942 fiel ihr Enkel Peter im Russlandfeldzug. Ihren Schmerz drückte die Künstlerin in einem steinernen Gefallenenehrenmal(4) aus: 18 Jahre arbeitete Käthe Kollwitz an Die trauernden Eltern. 18 Jahre – so jung war auch ihr Sohn Peter, als er als einer der ersten auf dem Schlachtfeld von Diksmuide getötet wurde. Er war es gewesen, den sie als Siebenjährigen in der Radierung der Frau mit dem toten Kinde festgehalten hatte. Das Skulpturenensemble wurde auf dem Soldatenfriedhof in Vladslo (Westflandern) aufgestellt.

Expressionismus
Im weiteren Sinne Bezeichnung für jede Kunstrichtung, die eine spezifisch subjektive Ausdruckssteigerung mit bildnerischen Mitteln zu erreichen sucht; im engeren Sinne Bezeichnung für eine im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts (1905 – 1930) besonders in der deutschen Kunst vorherrschende Stilrichtung. Kennzeichen: ausgeprägt subjektive, gegen die Tradition gerichtete Tendenz, die Ablehnung bürgerlicher Werte und Ästhetik, der leidenschaftliche Wunsch nach einer Erneuerung des Menschen aus einer schöpferischen Geistigkeit.

Vernis mou
Die Radierung entstand in Kombination mit dem Durchdruckverfahren. Bei dieser Technik wird die blanke Druckplatte mit einem weichen Grund (franz.: vernis mou) versehen, der durch den Zusatz von Wachs und Talg zu den Bestandteilen des gewöhnlichen harten Grundes erzeugt wird. In diesen weichen Grund lässt sich körniges oder geripptes Papier, Schmirgelpapier oder gemusterter Stoff eindrücken. Diese Materialien nehmen an den Stellen, wo das Muster oder das unregelmäßige Korn erscheinen soll, kleinste Teile der klebefähigen Masse an sich, sodass beim Abziehen des Papiers oder Stoffes die blanke Platte in einem System von Punkten sichtbar wird.

Biografie
1867: am 8. Juli als fünftes Kind des Baumeisters Carl Schmidt und der Katharina Schmidt, geb. Rapp, in Königsberg geboren
1881: Zeichenunterricht in Königsberg bei Rudolf Mauer und Gustav Naujok
1885 – 1886: Studium in Berlin an der Mal- und Zeichenschule des Berliner Künstlerinnenvereins bei Karl Stauffer-Bern. Sieht den Radierzyklus Ein Leben (Opus VIII) von Max Klinger
1887: privater Malunterricht bei Emil Neide in Königsberg
1888 – 1889: Fortführung des Malstudiums bei Ludwig Herterich in München. Einführung in die Technik des Radierens
1891: Heirat mit dem Jugendfreund Dr. Karl Kollwitz, der sich als Kassenarzt im Norden Berlins niederlässt
1892: Geburt des Sohnes Hans
1893 – 1897: besucht eine der frühen Aufführungen des Dramas Die Weber von Gerhart Hauptmann. Beginnt eine eigene druckgrafische Folge zu dem Aufstand der Schlesischen Weber von 1844
1896: Geburt des Sohnes Peter
1898 – 1903: Unterricht an der Berliner Künstlerinnenschule
1899: Eintritt in die Berliner Secession
1903: erste Darstellungen zum Thema Frau mit totem Kind
1903 – 1908: Arbeit an dem Zyklus Bauernkrieg
1904: Studienaufenthalt in Paris: erlernt die Grundlagen plastischen Gestaltens an der Académie Julian, besucht Auguste Rodin, beteiligt sich an der Ausstellung im Pariser Salon des Indépendants
1907: März – Juli in Italien, längerer Aufenthalt in Florenz. Während dieser Zeit Fußwanderung nach Rom
1910: erste plastische Versuche
1914: Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Sohn Peter fällt am 22. Oktober bei Diksmuide in Flandern. Die Künstlerin plant ein Gefallenendenkmal
1919: Käthe Kollwitz wird als erste Frau in die Preußische Akademie der Künste aufgenommen; sie erhält den Professoren-Titel. Dr. Karl Kollwitz wird Stadtverordneter der SPD
1919 – 1920: Gedenkblatt für Karl Liebknecht (Holzschnitt)
1920: Käthe Kollwitz reagiert auf die Nachkriegsnot mit Plakaten und Flugblättern
1922 – 1923: Holzschnittfolge Krieg, die 1924 als Mappe erscheint
1924: Mappe Abschied und Tod mit acht Zeichnungen von Käthe Kollwitz, Vorwort von Gerhart Hauptmann; Lithografie Brot für die Mappe Hunger der Internationalen Arbeiterhilfe; Plakat Nie wieder Krieg
1925: Tod der Mutter am 16. Februar. Der Zyklus Proletariat entsteht
1927: Reise in die Sowjetunion zu den Feierlichkeiten des 10. Jahrestages der Oktoberrevolution. Kollwitz-Ausstellungen in Moskau und Kasan
1928: wird Vorsteherin eines Meisterateliers für Grafik an der Akademie der Künste, Berlin
1931: beendet die originalgroßen Gipsmodelle von Vater und Mutter, dem Gedenkmal für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs
1932: große Kollwitz-Ausstellungen in Moskau und St. Petersburg. Aufstellung des Gedenkmals Vater und Mutter in Flandern
1933: Machtergreifung der Nationalsozialisten. Die Künstlerin wird gezwungen, aus der Preußischen Akademie der Künste auszutreten
1934 – 1937: die acht Lithografien der Folge Tod erscheinen einzeln
1935: Arbeit am eigenen Grabrelief: ruht im Frieden seiner Hände
1936: inoffizielles Ausstellungsverbot
1940: am 19. Juli stirbt der Ehemann Dr. Karl Kollwitz
1942: am 22. September fällt der Enkel Peter in Russland
1943: Evakuierung aus Berlin nach Nordhausen im August. Bei einem Bombenangriff am 23. November geht das Kollwitz-Haus in der Weißenburger Straße 25 in Flammen auf
1944: im Juli Umsiedlung auf den Rüdenhof“, ein Landhaus in Moritzburg bei Dresden
1945: Tod von Käthe Kollwitz am 22. April. Im September wird die Urne nach Berlin überführt und auf dem Zentralfriedhof Berlin-Lichtenberg beigesetzt

Provenienz
Die Radierung stammt aus der Galerie von der Becke in Berlin und wurde 1957 in den Bestand der Sammlung aufgenommen.

Verwendete Literatur
Sigrid Achenbach, Käthe Kollwitz (1867 – 1945). Zeichnungen und seltene Graphik im Berliner Kupferstichkabinett, Bilderheft der Staatlichen Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Heft 79 – 81, Berlin 1995.

Martin Fritsch (Hg.), Käthe Kollwitz. Zeichnung, Grafik, Plastik, Bestandskatalog, Käthe-Kollwitz-Museum Berlin, Leipzig 1999.

August Klipstein, Käthe Kollwitz. Verzeichnis des Graphischen Werkes, Bern 1955.

Gerhard Strauss, Käthe Kollwitz, Künstlermonographien, hg. v. Hermann T. Wiemann, Dresden 1950.

Fußnoten
1) Käthe Kollwitz, Brief an Arthur Bonus [etwa 1924/25], zitiert nach: Martin Fritsch (Hg.), Käthe Kollwitz. Zeichnung, Grafik, Plastik, Bestandskatalog, Käthe-Kollwitz-Museum Berlin, Leipzig 1999, S. 122.
2) Duccio di Buoninsegna, Kreuzabnahme Christi (1308 – 1311, Museo del Duomo, Siena). Dieser Hinweis stammt aus: Fritsch 1999, S. 162.
3) Tagebucheintragung von Käthe Kollwitz, Dezember 1910, aus: Tagebücher, S. 95, zitiert nach: Sigrid Achenbach, Käthe Kollwitz (1867 – 1945). Zeichnungen und seltene Graphik im Berliner Kupferstichkabinett, Bilderheft der Staatlichen Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Heft 79 – 81, S. 113. Die autografischen Tagebuchhefte werden im Käthe-Kollwitz-Archiv der Akademie der Künste in Berlin aufbewahrt.
4) So bezeichnete Kollwitz das Denkmal selbst, vgl. Fritsch 1999, S. 424.
5) Vgl. Gerhard Strauss, Käthe Kollwitz, Künstlermonographien, hg. v. Hermann T. Wiemann, Dresden 1950, S. 161.

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