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Käthe Kollwitz, Tod, Frau und Kind , 1910

Radie­rung auf Papier, 52 x 68 cm (39 x 39 cm)

Als er [Peter] sie­ben Jah­re alt war und ich die Radie­rung mach­te, die Frau mit dem toten Kin­de, zeich­ne­te ich mich selbst ihn im Arm hal­tend im Spie­gel. Das war sehr anstren­gend, und ich muß­te stöh­nen. Da sag­te sein Kin­der­stimm­chen trös­tend: Sei man still, Mut­ter, es wird auch sehr schön.“1

Mut­ter mit dem toten Kind war eines der wich­tigs­ten The­men im Werk der Künst­le­rin Käthe Koll­witz. Das Motiv fin­det sich bereits in den Gra­fik­fol­gen Ein Weber­auf­stand (1893 – 1897) und Bau­ern­krieg (1903 – 1908) und lässt sich auf meh­re­ren gra­fi­schen Ein­zel­blät­tern bis in das Jahr 1903 zurückverfolgen.

In den frü­hen Ver­sio­nen beugt sich die Mut­ter über den lie­gen­den toten Sohn, umfasst sei­nen Kör­per mit bei­den Armen. Das christ­li­che Motiv der Pie­tà mag dafür Pate gestan­den haben. 1907 reis­te Koll­witz nach Flo­renz, wo sie sich dank des Vil­la-Roma­na-Sti­pen­di­ums meh­re­re Mona­te auf­hal­ten konn­te. Anläss­lich einer Fahrt nach Sie­na sah sie Duc­cio di Buon­in­seg­nas Kreuz­ab­nah­me2. Das Werk ist Teil eines Pas­si­ons­zy­klus, der sich auf der Rück­sei­te der Maes­tà, dem ehe­ma­li­gen Hoch­al­tar­bild im Dom zu Sie­na, befin­det. Man sieht dar­auf, wie Maria das Haupt des toten Chris­tus an sich drückt, wie ihre Hand sei­nen Kopf umfängt, wäh­rend die­ser soeben vom Kreuz abge­nom­men wird.

In der inten­si­ven Beschäf­ti­gung mit dem The­ma der Mut­ter mit ihrem toten Sohn ver­än­der­te sich nun die Anord­nung der bei­den Figu­ren: Der Sohn wird ste­hend dar­ge­stellt und er ist es nun, der sich zur Mut­ter hin­un­ter­beugt. Die­se nimmt nach und nach immer mehr die Züge Käthe Koll­witz’ an. Ihre aus­drucks­star­ke Hand umklam­mert den Hals und drückt den Kopf des Kin­des mit ver­zwei­fel­tem Ges­tus an ihr Gesicht. Sie ver­sucht ihn krampf­haft fest­zu­hal­ten, der Toten­kopf hin­ter dem Rücken des Soh­nes weist jedoch auf die Ver­geb­lich­keit aller Mühe hin. Der Tod als Schat­ten wir­kend oder berüh­rend eine Hand auf­le­gend hin­ten vor­bei­ge­hend. Sche­men­haft.“3 Im Jahr die­ser Tage­buch­ein­tra­gung ent­stand die Radie­rung Tod, Frau und Kind, die sich im Bestand des Lentos befindet.

Als hät­te sie es vor­aus­ge­ahnt – der Tod des eige­nen Kin­des spiel­te auch im Leben von Käthe Koll­witz eine gro­ße Rol­le. Die deut­sche Künst­le­rin muss­te erle­ben, wie einer ihrer Söh­ne und ein Enkel­sohn auf den Kriegs­schau­plät­zen der bei­den Welt­krie­ge ver­star­ben. 1914 starb Peter, der jün­ge­re ihrer bei­den Söh­ne, an der Front in West­flan­dern. 1942 fiel ihr Enkel Peter im Russ­land­feld­zug. Ihren Schmerz drück­te die Künst­le­rin in einem stei­ner­nen Gefal­le­nen­eh­ren­mal4 aus: 18 Jah­re arbei­te­te Käthe Koll­witz an Die trau­ern­den Eltern. 18 Jah­re – so jung war auch ihr Sohn Peter, als er als einer der ers­ten auf dem Schlacht­feld von Diks­mui­de getö­tet wur­de. Er war es gewe­sen, den sie als Sie­ben­jäh­ri­gen in der Radie­rung der Frau mit dem toten Kin­de fest­ge­hal­ten hat­te. Das Skulp­ture­n­en­sem­ble wur­de auf dem Sol­da­ten­fried­hof in Vladslo (West­flan­dern) aufgestellt.

Expres­sio­nis­mus

Im wei­te­ren Sin­ne Bezeich­nung für jede Kunst­rich­tung, die eine spe­zi­fisch sub­jek­ti­ve Aus­drucks­stei­ge­rung mit bild­ne­ri­schen Mit­teln zu errei­chen sucht; im enge­ren Sin­ne Bezeich­nung für eine im ers­ten Drit­tel des 20. Jahr­hun­derts (1905 – 1930) beson­ders in der deut­schen Kunst vor­herr­schen­de Stil­rich­tung. Kenn­zei­chen: aus­ge­prägt sub­jek­ti­ve, gegen die Tra­di­ti­on gerich­te­te Ten­denz, die Ableh­nung bür­ger­li­cher Wer­te und Ästhe­tik, der lei­den­schaft­li­che Wunsch nach einer Erneue­rung des Men­schen aus einer schöp­fe­ri­schen Geistigkeit.

Ver­nis mou

Die Radie­rung ent­stand in Kom­bi­na­ti­on mit dem Durch­druck­ver­fah­ren. Bei die­ser Tech­nik wird die blan­ke Druck­plat­te mit einem wei­chen Grund (franz.: ver­nis mou) ver­se­hen, der durch den Zusatz von Wachs und Talg zu den Bestand­tei­len des gewöhn­li­chen har­ten Grun­des erzeugt wird. In die­sen wei­chen Grund lässt sich kör­ni­ges oder geripp­tes Papier, Schmir­gel­pa­pier oder gemus­ter­ter Stoff ein­drü­cken. Die­se Mate­ria­li­en neh­men an den Stel­len, wo das Mus­ter oder das unre­gel­mä­ßi­ge Korn erschei­nen soll, kleins­te Tei­le der kle­be­fä­hi­gen Mas­se an sich, sodass beim Abzie­hen des Papiers oder Stof­fes die blan­ke Plat­te in einem Sys­tem von Punk­ten sicht­bar wird.

Bio­gra­fie

1867:

am 8. Juli als fünf­tes Kind des Bau­meis­ters Carl Schmidt und der Katha­ri­na Schmidt, geb. Rapp, in Königs­berg geboren

1881:

Zei­chen­un­ter­richt in Königs­berg bei Rudolf Mau­er und Gus­tav Naujok

1885 – 1886:

Stu­di­um in Ber­lin an der Mal- und Zei­chen­schu­le des Ber­li­ner Künst­le­rin­nen­ver­eins bei Karl Stauf­fer-Bern. Sieht den Radier­zy­klus Ein Leben (Opus VIII) von Max Klinger

1887:

pri­va­ter Mal­un­ter­richt bei Emil Nei­de in Königsberg

1888 – 1889:

Fort­füh­rung des Mal­stu­di­ums bei Lud­wig Her­te­rich in Mün­chen. Ein­füh­rung in die Tech­nik des Radierens

1891:

Hei­rat mit dem Jugend­freund Dr. Karl Koll­witz, der sich als Kas­sen­arzt im Nor­den Ber­lins niederlässt

1892:

Geburt des Soh­nes Hans

1893 – 1897:

besucht eine der frü­hen Auf­füh­run­gen des Dra­mas Die Weber von Ger­hart Haupt­mann. Beginnt eine eige­ne druck­gra­fi­sche Fol­ge zu dem Auf­stand der Schle­si­schen Weber von 1844

1896:

Geburt des Soh­nes Peter

1898 – 1903:

Unter­richt an der Ber­li­ner Künstlerinnenschule

1899:

Ein­tritt in die Ber­li­ner Secession

1903:

ers­te Dar­stel­lun­gen zum The­ma Frau mit totem Kind

1903 – 1908:

Arbeit an dem Zyklus Bau­ern­krieg

1904:

Stu­di­en­auf­ent­halt in Paris: erlernt die Grund­la­gen plas­ti­schen Gestal­tens an der Aca­dé­mie Juli­an, besucht Augus­te Rodin, betei­ligt sich an der Aus­stel­lung im Pari­ser Salon des Indépendants

1907:

März – Juli in Ita­li­en, län­ge­rer Auf­ent­halt in Flo­renz. Wäh­rend die­ser Zeit Fuß­wan­de­rung nach Rom

1910:

ers­te plas­ti­sche Versuche

1914:

Aus­bruch des Ers­ten Welt­kriegs. Sohn Peter fällt am 22. Okto­ber bei Diks­mui­de in Flan­dern. Die Künst­le­rin plant ein Gefallenendenkmal

1919:

Käthe Koll­witz wird als ers­te Frau in die Preu­ßi­sche Aka­de­mie der Küns­te auf­ge­nom­men; sie erhält den Pro­fes­so­ren-Titel. Dr. Karl Koll­witz wird Stadt­ver­ord­ne­ter der SPD

1919 – 1920:

Gedenk­blatt für Karl Lieb­knecht (Holz­schnitt)

1920:

Käthe Koll­witz reagiert auf die Nach­kriegs­not mit Pla­ka­ten und Flugblättern

1922 – 1923:

Holz­schnitt­fol­ge Krieg, die 1924 als Map­pe erscheint

1924:

Map­pe Abschied und Tod mit acht Zeich­nun­gen von Käthe Koll­witz, Vor­wort von Ger­hart Haupt­mann; Litho­gra­fie Brot für die Map­pe Hun­ger der Inter­na­tio­na­len Arbei­ter­hil­fe; Pla­kat Nie wie­der Krieg

1925:

Tod der Mut­ter am 16. Febru­ar. Der Zyklus Pro­le­ta­ri­at entsteht

1927:

Rei­se in die Sowjet­uni­on zu den Fei­er­lich­kei­ten des 10. Jah­res­ta­ges der Okto­ber­re­vo­lu­ti­on. Koll­witz-Aus­stel­lun­gen in Mos­kau und Kasan

1928:

wird Vor­ste­he­rin eines Meis­ter­ate­liers für Gra­fik an der Aka­de­mie der Küns­te, Berlin

1931:

been­det die ori­gi­nal­gro­ßen Gips­mo­del­le von Vater und Mut­ter, dem Gedenk­mal für die Gefal­le­nen des Ers­ten Weltkriegs

1932:

gro­ße Koll­witz-Aus­stel­lun­gen in Mos­kau und St. Peters­burg. Auf­stel­lung des Gedenk­mals Vater und Mut­ter in Flandern

1933:

Macht­er­grei­fung der Natio­nal­so­zia­lis­ten. Die Künst­le­rin wird gezwun­gen, aus der Preu­ßi­schen Aka­de­mie der Küns­te auszutreten

1934 – 1937:

die acht Litho­gra­fien der Fol­ge Tod erschei­nen einzeln

1935:

Arbeit am eige­nen Grab­re­li­ef: ruht im Frie­den sei­ner Hände

1936:

inof­fi­zi­el­les Ausstellungsverbot

1940:

am 19. Juli stirbt der Ehe­mann Dr. Karl Kollwitz

1942:

am 22. Sep­tem­ber fällt der Enkel Peter in Russland

1943:

Eva­ku­ie­rung aus Ber­lin nach Nord­hau­sen im August. Bei einem Bom­ben­an­griff am 23. Novem­ber geht das Koll­witz-Haus in der Wei­ßen­bur­ger Stra­ße 25 in Flam­men auf

1944:

im Juli Umsied­lung auf den Rüden­hof“, ein Land­haus in Moritz­burg bei Dresden

1945:

Tod von Käthe Koll­witz am 22. April. Im Sep­tem­ber wird die Urne nach Ber­lin über­führt und auf dem Zen­tral­fried­hof Ber­lin-Lich­ten­berg beigesetzt

Pro­ve­ni­enz

Die Radie­rung stammt aus der Gale­rie von der Becke in Ber­lin und wur­de 1957 in den Bestand der Samm­lung aufgenommen.

Ver­wen­de­te Literatur

Sig­rid Achen­bach, Käthe Koll­witz (1867 – 1945). Zeich­nun­gen und sel­te­ne Gra­phik im Ber­li­ner Kup­fer­stich­ka­bi­nett, Bil­d­er­heft der Staat­li­chen Muse­en zu Ber­lin – Preu­ßi­scher Kul­tur­be­sitz, Heft 79 – 81, Ber­lin 1995.

Mar­tin Fritsch (Hg.), Käthe Koll­witz. Zeich­nung, Gra­fik, Plas­tik, Bestands­ka­ta­log, Käthe-Koll­witz-Muse­um Ber­lin, Leip­zig 1999.

August Klips­tein, Käthe Koll­witz. Ver­zeich­nis des Gra­phi­schen Wer­kes, Bern 1955.

Ger­hard Strauss, Käthe Koll­witz, Künst­ler­mo­no­gra­phien, hg. v. Her­mann T. Wie­mann, Dres­den 1950.

  1. Käthe Kollwitz, Brief an Arthur Bonus [etwa 1924/25], zitiert nach: Martin Fritsch (Hg.), Käthe Kollwitz. Zeichnung, Grafik, Plastik, Bestandskatalog, Käthe-Kollwitz-Museum Berlin, Leipzig 1999, S. 122.
  2. Duccio di Buoninsegna, Kreuzabnahme Christi (1308–1311, Museo del Duomo, Siena). Dieser Hinweis stammt aus: Fritsch 1999, S. 162.
  3. Tagebucheintragung von Käthe Kollwitz, Dezember 1910, aus: Tagebücher, S. 95, zitiert nach: Sigrid Achenbach, Käthe Kollwitz (1867–1945). Zeichnungen und seltene Graphik im Berliner Kupferstichkabinett, Bilderheft der Staatlichen Museen zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Heft 79–81, S. 113. Die autografischen Tagebuchhefte werden im Käthe-Kollwitz-Archiv der Akademie der Künste in Berlin aufbewahrt.
  4. So bezeichnete Kollwitz das Denkmal selbst, vgl. Fritsch 1999, S. 424.

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