DARK BRIDGE, 2003
Farbradierung mit Aquatinta auf Büttenpapier
„Ich denke, daß es um die Jahrhundertwende zwei Künstler gab, die ein äußerst tiefgehendes Verständnis des 20. Jahrhunderts besaßen: Der eine war van Gogh; seine drangvolle Hysterie ließ ihn seine Bilder so stofflich malen, daß sie wie Blindenschrift wirken. Der andere war Matisse. Er malte Bilder, in denen die Dinge nicht ganz vollständig waren, oder in denen verschiedene Malweisen gleichzeitig vorkamen.“(Sean Scully)
Auf einem querrechteckigen Blatt Papier breitet sich ein ebenso querrechteckiges, hochdynamisches Farbgefüge aus, das in elf hell und dunkel alternierende Felder unterteilt ist. Die äußeren Reihen bestehen aus jeweils vier übereinander angeordneten Farbfeldern, die mittlere jedoch nur aus drei. Die mittleren Rechtecke sind allerdings größer als die beiden seitlichen, daraus ergibt sich eine Anordnung der Farbfelder im Verhältnis 4:3:4. Dieses fein ausbalancierte Gleichgewicht verleiht der mittleren Bahn mehr visuelles Gewicht.
Die einzelnen Querrechtecke überlappen sich geringfügig an den Rändern. Die unterschiedlich hellen Farbfelder verbinden sich dadurch zu drei vertikal durchgezogenen Farbstreifen; es ergibt sich also eine hierarchisch geordnete Dreiteiligkeit, die auf sakrale Werke anspielt. Flügelaltäre oder Altarretabel sind ebenfalls als Triptychen angelegt.
Durch die Überlagerung der Ränder entsteht zudem ein dynamisches Vor- und Zurückweichen der Farbfelder. In Zusammensicht all dieser Faktoren vermittelt Dark Bridge den Eindruck eines rhythmischen Pulsierens oder eines schwingenden Farbraums. Die subtile Linearität der auslaufenden Ränder verleiht der Komposition eine große Leichtigkeit und Fragilität und, verbunden mit der verhaltenen Farbigkeit, einen Hauch von Nostalgie.
Der Titel der Farbradierung dockt an unseren kollektiven Gedächtnisspeicher an. Dark Bridge könnte uns demnach an eine sehr alte Fotografie erinnern, die – piktorialistischen Tendenzen entsprechend – mit einem Weichzeichnerobjektiv aufgenommen wurde. Sie könnte uns aber auch in unseren Gedanken zu einer textilen Struktur führen oder an ein stark vergrößertes Muster erinnern, das wir vielleicht irgendwann flüchtig im Alltag gesehen haben.
Sean Scullys wichtigstes Medium ist die großformatige Malerei. Im Sammlungsbestand des LENTOS befinden sich zwei sehr wuchtige Gemälde: Uriel (1997) ist 2,5 x 2,6 Meter groß, Wall of Light Golden Brown (2010) 2,2 x 1,9 Meter. Das jüngere Gemälde ging nach einer 2012 im LENTOS stattgefundenen Einzelausstellung als großzügige Schenkung des Künstlers in den Besitz der Sammlung über.
Scullys Gemälde ragen als riesige Farbkörper in den Ausstellungsraum und integrieren die Betrachtenden geradezu in ein mächtiges Farb-Environment. Seine Gemälde werden dadurch auch körperlich erfahrbar.
In seinen Kompositionen lässt sich der Künstler von vergangenen Ereignissen inspirieren. Die Farbkonstellationen resultieren zudem auch aus einer pragmatischen Auseinandersetzung mit Farbwerten und mit der Farbmasse, also der haptischen Substanz des Malmittels.
Bei näherer Betrachtung erweisen sich Scullys Werke als überaus subtile, fein nuancierte und komplexe Farb-Form-Gefüge, in denen auch das Licht eine bedeutende Rolle spielt: Es ist wie eine Matrix im Urgrund der Gemälde vorhanden.
In den Werken der 1960er- und 1970er-Jahre erscheint es als Leuchthintergrund auf einer eigenen Ebene. In diesen frühen Werken ergibt sich eine Wirkung wie von Neonröhrenlicht: hart, metallisch, technisch. Seit den 1980er-Jahren mischt sich das Licht direkt in die bildflächenparallelen Farbstreifen. Die gemalten Balken werden dadurch selbst farblichthaltig. Das Licht durchdringt die Farbmaterie und führt das Werk des Künstlers interpretatorisch auf eine höhere Ebene – somit kann ein an sich planes Gemälde in der Betrachtung zu einem mehrdimensionalen Seherlebnis werden.
Biografie
1945: geboren in Dublin
Lebt und arbeitet in New York, Barcelona und Königsdorf (Burgenland)
1949: Übersiedlung nach Islington, einen von Iren bewohnten Stadtteil Londons
1960: Druckerlehre in London
1962: Teilnahme an Abendkursen der Central School of Art in London mit Schwerpunkt figurative Malerei
1965 – 1968: Besuch des Londoner Croydon College of Art. Die Schule ebnet dem jungen Mann eine Karriere als Künstler
1967: Scully entdeckt Mark Rothkos meditative Werke. Sie führen Scully dazu, den Weg zur nichtfigurativen Malerei einzuschlagen
1968: Beginn des Studiums der Malerei an der Newscastle University
1969: Marokkoreise. Die Streifen und Farben der dort verwendeten Webstoffe und das Licht des Südens hinterlassen tiefe Eindrücke
1972 – 1973: Fortsetzung des Studiums an der Harvard University in Cambridge, Massachusetts
1973: erste Einzelausstellung in der Londoner Rowan Gallery
1973 – 1975: Lehrbeauftragter an der Chelsea School of Art and Design und am Goldsmiths College of Art and Design in London
1975: Übersiedlung in die USA, wo 1981/82 eines seiner Hauptwerke, nämlich Backs and Fronts, entsteht. Es folgt eine kontinuierliche künstlerische Weiterentwicklung, die von zahlreichen internationalen Ausstellungen begleitet wird
1984: Teilnahme an der MoMA-Gruppenausstellung An international survey of recent painting and sculpture in New York
1987 – 1990: mehrfach Reisen nach Mexiko
1988: Verwendung von Stahl in den Bildern
1989: erste europäische Einzelausstellung in der Londoner Whitechapel Gallery. Anschließend Ausstellungstour nach Madrid (Palacio de Velázquez) und München (Städtische Galerie im Lenbachhaus)
1989: Nominierung für den Turner-Prize zusammen mit Paula Rego, Lucian Freud und Richard Long und anderen. Der Preis geht schließlich an Richard Long
1997: erste Ausstellung in Österreich in der Neuen Galerie der Stadt Linz, der Vorgängerinstitution des LENTOS
2002 – 2007: Professur für Malerei an der Akademie der Bildenden Künste in München
2007 – 2008: Ausstellung in der Miró-Foundation in Barcelona. Die Ausstellung reist anschließend in das Musée d’art moderne et contemporain de Saint-Étienne und in das Museo d’Arte Contemporanea di Roma weiter
2007: Heirat mit der Malerin Liliane Tomasko
2009: Sohn Oisin wird geboren
2011: monumentales Glasfenster für die Kathedrale von Girona, Katalonien
2012: Einzelausstellungen im Kunstmuseum Bern und im LENTOS Kunstmuseum Linz
2014: Einzelausstellung im Ludwig Museum in Koblenz
2015: Teilnahme an der Biennale in Venedig (Palazzo Falier) mit der Ausstellung Land Sea
Provenienz
Die Farbradierung entstand im Jahr 2003 als Teil einer Mappe, die anlässlich der Eröffnung des LENTOS Kunstmuseum Linz vom damaligen Direktor Peter Baum herausgegeben wurde. Sie ging als Schenkung der LENTOS Freunde in den Sammlungsbestand über.
Literatur
Matthias Frehner, Stella Rollig (Hg.), Sean Scully. Retrospektive, Ausstellungskatalog LENTOS Kunstmuseum Linz, Kunstmuseum Bern, Berlin 2012.