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Scully Sean, Dark bridge , 2003

Farb­ra­die­rung mit Aqua­tin­ta auf Büttenpapier

  • Scully Sean, Dark bridge, 2003
  • Sean Scully, Uriel, 1997
  • Sean Scully, Wall of Light Golden Brown, 2010
  • Sean Scully, Backcloth, 1970

Ich den­ke, daß es um die Jahr­hun­dert­wen­de zwei Künst­ler gab, die ein äußerst tief­ge­hen­des Ver­ständ­nis des 20. Jahr­hun­derts besa­ßen: Der eine war van Gogh; sei­ne drang­vol­le Hys­te­rie ließ ihn sei­ne Bil­der so stoff­lich malen, daß sie wie Blin­den­schrift wir­ken. Der ande­re war Matis­se. Er mal­te Bil­der, in denen die Din­ge nicht ganz voll­stän­dig waren, oder in denen ver­schie­de­ne Mal­wei­sen gleich­zei­tig vor­ka­men.“(Sean Scul­ly)

Auf einem quer­recht­ecki­gen Blatt Papier brei­tet sich ein eben­so quer­recht­ecki­ges, hoch­dy­na­mi­sches Farb­ge­fü­ge aus, das in elf hell und dun­kel alter­nie­ren­de Fel­der unter­teilt ist. Die äuße­ren Rei­hen bestehen aus jeweils vier über­ein­an­der ange­ord­ne­ten Farb­fel­dern, die mitt­le­re jedoch nur aus drei. Die mitt­le­ren Recht­ecke sind aller­dings grö­ßer als die bei­den seit­li­chen, dar­aus ergibt sich eine Anord­nung der Farb­fel­der im Ver­hält­nis 4:3:4. Die­ses fein aus­ba­lan­cier­te Gleich­ge­wicht ver­leiht der mitt­le­ren Bahn mehr visu­el­les Gewicht.


Die ein­zel­nen Quer­recht­ecke über­lap­pen sich gering­fü­gig an den Rän­dern. Die unter­schied­lich hel­len Farb­fel­der ver­bin­den sich dadurch zu drei ver­ti­kal durch­ge­zo­ge­nen Farb­strei­fen; es ergibt sich also eine hier­ar­chisch geord­ne­te Drei­tei­lig­keit, die auf sakra­le Wer­ke anspielt. Flü­gel­al­tä­re oder Altar­re­ta­bel sind eben­falls als Tri­pty­chen ange­legt.

Durch die Über­la­ge­rung der Rän­der ent­steht zudem ein dyna­mi­sches Vor- und Zurück­wei­chen der Farb­fel­der. In Zusam­men­sicht all die­ser Fak­to­ren ver­mit­telt Dark Bridge den Ein­druck eines rhyth­mi­schen Pul­sie­rens oder eines schwin­gen­den Farb­raums. Die sub­ti­le Linea­ri­tät der aus­lau­fen­den Rän­der ver­leiht der Kom­po­si­ti­on eine gro­ße Leich­tig­keit und Fra­gi­li­tät und, ver­bun­den mit der ver­hal­te­nen Far­big­keit, einen Hauch von Nostalgie.


Der Titel der Farb­ra­die­rung dockt an unse­ren kol­lek­ti­ven Gedächt­nis­spei­cher an. Dark Bridge könn­te uns dem­nach an eine sehr alte Foto­gra­fie erin­nern, die – pik­to­ria­lis­ti­schen Ten­den­zen ent­spre­chend – mit einem Weich­zeichner­ob­jek­tiv auf­ge­nom­men wur­de. Sie könn­te uns aber auch in unse­ren Gedan­ken zu einer tex­ti­len Struk­tur füh­ren oder an ein stark ver­grö­ßer­tes Mus­ter erin­nern, das wir viel­leicht irgend­wann flüch­tig im All­tag gese­hen haben.


Sean Scul­lys wich­tigs­tes Medi­um ist die groß­for­ma­ti­ge Male­rei. Im Samm­lungs­be­stand des Lentos befin­den sich zwei sehr wuch­ti­ge Gemäl­de: Uri­el (1997) ist 2,5 x 2,6 Meter groß, Wall of Light Gol­den Brown (2010) 2,2 x 1,9 Meter. Das jün­ge­re Gemäl­de ging nach einer 2012 im Lentos statt­ge­fun­de­nen Ein­zel­aus­stel­lung als groß­zü­gi­ge Schen­kung des Künst­lers in den Besitz der Samm­lung über. 

Scul­lys Gemäl­de ragen als rie­si­ge Farb­kör­per in den Aus­stel­lungs­raum und inte­grie­ren die Betrach­ten­den gera­de­zu in ein mäch­ti­ges Farb-Envi­ron­ment. Sei­ne Gemäl­de wer­den dadurch auch kör­per­lich erfahrbar.


In sei­nen Kom­po­si­tio­nen lässt sich der Künst­ler von ver­gan­ge­nen Ereig­nis­sen inspi­rie­ren. Die Farb­kon­stel­la­tio­nen resul­tie­ren zudem auch aus einer prag­ma­ti­schen Aus­ein­an­der­set­zung mit Farb­wer­ten und mit der Farb­mas­se, also der hap­ti­schen Sub­stanz des Malmittels.


Bei nähe­rer Betrach­tung erwei­sen sich Scul­lys Wer­ke als über­aus sub­ti­le, fein nuan­cier­te und kom­ple­xe Farb-Form-Gefü­ge, in denen auch das Licht eine bedeu­ten­de Rol­le spielt: Es ist wie eine Matrix im Urgrund der Gemäl­de vorhanden.


In den Wer­ken der 1960er- und 1970er-Jah­re erscheint es als Leucht­hin­ter­grund auf einer eige­nen Ebe­ne. In die­sen frü­hen Wer­ken ergibt sich eine Wir­kung wie von Neon­röh­ren­licht: hart, metal­lisch, tech­nisch. Seit den 1980er-Jah­ren mischt sich das Licht direkt in die bild­flä­chen­par­al­le­len Farb­strei­fen. Die gemal­ten Bal­ken wer­den dadurch selbst farb­licht­hal­tig. Das Licht durch­dringt die Farb­ma­te­rie und führt das Werk des Künst­lers inter­pre­ta­to­risch auf eine höhe­re Ebe­ne – somit kann ein an sich pla­nes Gemäl­de in der Betrach­tung zu einem mehr­di­men­sio­na­len Seh­erleb­nis werden.

Bio­gra­fie

1945:

gebo­ren in Dub­lin
lebt und arbei­tet in New York, Bar­ce­lo­na und Königs­dorf, Burgenland


1949:

Über­sied­lung nach Isling­ton, einen von Iren bewohn­ten Stadt­teil Londons

1960:

Drucker­leh­re in London

1962:

Teil­nah­me an Abend­kur­sen der Cen­tral School of Art in Lon­don mit Schwer­punkt figu­ra­ti­ve Malerei

1965 – 1968:

Besuch des Lon­do­ner Croy­don Col­le­ge of Art. Die Schu­le ebnet dem jun­gen Mann eine Kar­rie­re als Künstler

1967:

Scul­ly ent­deckt Mark Roth­kos medi­ta­ti­ve Wer­ke. Sie füh­ren Scul­ly dazu, den Weg zur nicht­fi­gu­ra­ti­ven Male­rei einzuschlagen

1968:

Beginn des Stu­di­ums der Male­rei an der New­s­cast­le University

1969:

Marok­ko­rei­se. Die Strei­fen und Far­ben der dort ver­wen­de­ten Web­stof­fe und das Licht des Südens hin­ter­las­sen tie­fe Eindrücke

1972 – 1973:

Fort­set­zung des Stu­di­ums an der Har­vard Uni­ver­si­ty in Cam­bridge, Massachusetts

1973:

ers­te Ein­zel­aus­stel­lung in der Lon­do­ner Rowan Gallery

1973 – 1975:

Lehr­be­auf­trag­ter an der Chel­sea School of Art and Design und am Golds­mit­hs Col­le­ge of Art and Design in London

1975:

Über­sied­lung in die USA, wo 1981/82 eines sei­ner Haupt­wer­ke, näm­lich Backs and Fronts, ent­steht. Es folgt eine kon­ti­nu­ier­li­che künst­le­ri­sche Wei­ter­ent­wick­lung, die von zahl­rei­chen inter­na­tio­na­len Aus­stel­lun­gen beglei­tet wird

1984:

Teil­nah­me an der MoMA-Grup­pen­aus­stel­lung An inter­na­tio­nal sur­vey of recent pain­ting and sculp­tu­re in New York

1987 – 1990:

mehr­fach Rei­sen nach Mexiko

1988:

Ver­wen­dung von Stahl in den Bildern

1989:

ers­te euro­päi­sche Ein­zel­aus­stel­lung in der Lon­do­ner Whitec­ha­pel Gal­le­ry. Anschlie­ßend Aus­stel­lungs­tour nach Madrid (Pala­cio de Veláz­quez) und Mün­chen (Städ­ti­sche Gale­rie im Lenbachhaus)

1989:

Nomi­nie­rung für den Tur­ner-Pri­ze zusam­men mit Pau­la Rego, Luci­an Freud und Richard Long und ande­ren. Der Preis geht schließ­lich an Richard Long

1997:

ers­te Aus­stel­lung in Öster­reich in der Neu­en Gale­rie der Stadt Linz, der Vor­gän­ger­in­sti­tu­ti­on des Lentos

2002 – 2007:

Pro­fes­sur für Male­rei an der Aka­de­mie der Bil­den­den Küns­te in München

2007 – 2008:

Aus­stel­lung in der Miró-Foun­da­ti­on in Bar­ce­lo­na. Die Aus­stel­lung reist anschlie­ßend in das Musée d’art moder­ne et con­tem­porain de Saint-Éti­en­ne und in das Museo d’Arte Con­tem­pora­nea di Roma weiter

2007:

Hei­rat mit der Male­rin Lilia­ne Tomasko

2009:

Sohn Oisin wird geboren

2011:

monu­men­ta­les Glas­fens­ter für die Kathe­dra­le von Giro­na, Katalonien

2012:

Ein­zel­aus­stel­lun­gen im Kunst­mu­se­um Bern und im Lentos Kunst­mu­se­um Linz

2014:

Ein­zel­aus­stel­lung im Lud­wig Muse­um in Koblenz

2015:

Teil­nah­me an der Bien­na­le in Vene­dig (Palaz­zo Falier) mit der Aus­stel­lung Land Sea

Pro­ve­ni­enz

Die Farb­ra­die­rung ent­stand im Jahr 2003 als Teil einer Map­pe, die anläss­lich der Eröff­nung des Lentos Kunst­mu­se­um Linz vom dama­li­gen Direk­tor Peter Baum her­aus­ge­ge­ben wur­de. Sie ging als Schen­kung der Lentos Freun­de in den Samm­lungs­be­stand über.

Lite­ra­tur

Mat­thi­as Freh­ner, Stel­la Rol­lig (Hg.), Sean Scul­ly. Retro­spek­ti­ve, Aus­stel­lungs­ka­ta­log Lentos Kunst­mu­se­um Linz, Kunst­mu­se­um Bern, Ber­lin 2012.

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