Lithografie auf Papier, 72 x 90,5 cm
„Ich war mit den Standschützen 14 Tage bereits in der Feuerlinie in der vordersten Front auf einer Festung bei Riva, mitten im Kanonendonner, von unserem Fort wurde auch geschossen. Die Besatzung, der auch ich angehörte, hat jedoch nicht einzugreifen gebraucht. Es war aber alles in Bereitschaft. Unsere Grenzen sind derart befestigt, daß die Walschen niemals herein können, ohne immer blutig zurück zu müssen.“1
Im Frühjahr 1915 meldet sich Egger-Lienz zu den Tiroler Standschützen – „unter anderem, um einen Fronteinsatz außerhalb Tirols auszuschließen“2. Durch die Kriegserklärung Italiens an Österreich3 ist der Einsatz in der Bergfestung Tombio nahe dem Gardasee allerdings bereits nach einer Woche beendet.
Der Künstler schildert in der Lithografie mit dem Titel 1915 seinen Eindruck der Südfront bei den Tiroler Standschützen. Drei Reihen von Soldaten mit Gewehren in ihren Händen stürmen auf uns zu. Sie drängen vorwärts, sehen der Gefahr ins Auge, bilden eine bewaffnete Mauer. Während sich die Vordersten bereits zum Angriff rüsten, laufen die Männer in den hinteren Reihen scheinbar blindlings auf uns zu. Ihre Gesichtszüge sind uniform, als stammten sie aus einem Fantasy-Film – ein Horrorszenario mit geklonten Gestalten. Egger-Lienz hatte die Standschützen bewusst gleichförmig gehalten, um den Ausdruck zu steigern: Die Männer verschmelzen dadurch zu einer Einheit, sie werden zur Kampfmaschine schlechthin.
Die Lithografie entstand nach zeichnerischen Entwürfen, die sich im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum und in Bozener Privatbesitz befinden.4 Egger-Lienz ließ sie in der Staatsdruckerei im Auftrag der Gesellschaft für vervielfältigende Kunst in Wien ausführen. In einem Brief an Heinrich Hammer schreibt er: „[…] sie erscheint im Dezember als Prämienblatt auch im Handel. Österreichs und Deutschlands Volk in Waffen schiebt als eine unbesiegbare Macht, eine undurchbrechliche Mauer, den Feind vor sich her. Ich mußte auf intime Charakterisierung der Menschen verzichten, wenn das ‚Symbolische‘, um das es sich bei so einer Sache immer dreht, wirksam werden soll. Entschlossenheit, Kraft, beflügelter Schritt u.s.w.“5
Die Grafik 1915 bildet den Anfang einer Serie von Kriegsdarstellungen des Künstlers. Darin wird aus einer Schilderung des heroischen Schreitens und der monumentalen Geste innerhalb von nur drei Jahren eine Auseinandersetzung mit den humanitären Folgen des Krieges. Ein 1915/16 entstandenes, mit Der Krieg betiteltes Gemälde, das im Museum Schloss Bruck in Lienz aufbewahrt wird,6 zeigt bewaffnete Soldaten. Während die Gesichtszüge, verglichen mit 1915, nach wie vor sehr gleichförmig sind, hat sich die Phalanx, die die Männer noch in unserer Lithografie bilden, im Gemälde bereits aufgelöst. Aus der geschlossenen Soldatenfront wurde ein Haufen Bewaffneter. Im Bildvordergrund sowie zwischen den Reihen der Soldaten erkennt man im Gemälde bereits mehrere Tote: Der Krieg fordert seine Opfer. Während Egger-Lienz im Gemälde noch „das Aufrechte, Unbesiegbare [sic!] Schreiten über die Leichen, [das] Ewige als Mythos“7 darstellen will, ändert sich seine Gesinnung in den folgenden Jahren zusehends. Auf seine eigene Person bezogen fürchtet Egger-Lienz, seine Heimat in St. Justina bei Bozen verlassen zu müssen, wenn die Italiener in Südtirol einmaschieren. Daher beteuert er immer wieder die Stärke der Südtiroler Front. In einem Brief an Otto Kunz schreibt er: „Der Welsche wird Bozen nicht betreten, wir werden hierbleiben können. Vor drei Tagen kam ich von einer 8tägigen Reise von der Dolomitenfront zurück, wo ich große Eindrücke hatte.“8 Die Zeit belehrte Egger-Lienz schließlich eines Besseren. Parallel dazu verschwindet das Heroische aus seinen Kriegsdarstellungen und macht einer Schilderung der Kriegsopfer Platz, die in den 1917 und 1918 entstandenen Gemälden wie Finale, Leichenfeld II, IV, Totenopfer und Missa eroica einen intensiven Ausdruck findet.
Egger-Lienz wird von der Fachwelt als Maler der Zwischenkriegszeit eingestuft. Die vorliegende Grafik ist wegweisend für Egger-Lienz’ Suche nach dem Allgemeingültigen, nach den großen Themen der Menschheit. Stilistisch gesehen handelt es sich um ein sehr frühes Werk Egger-Lienz’ auf dem Weg zur Neuen Sachlichkeit.
Neue Sachlichkeit
Charakteristisches Anliegen der Künstler der Neuen Sachlichkeit war eine objektive und präzise Wiedergabe der Realität. Die Überschärfe und die starke Betonung der Gegenständlichkeit unter Ausschaltung von Licht und Schatten in vielen Werken lässt oft eine magische Wirkung entstehen (weshalb man die Strömung auch als magischen Realismus bezeichnet hat). Die hochfliegenden expressionistischen Ideale, ihr Erlösungspathos und besonders der überzogene Ich-Kult der expressionistischen Künstler wichen einem prosaischen, oftmals zynischen Blick auf die Wirklichkeit, auf wirtschaftliche Not und soziale Gegensätze, die mit dem Ersten Weltkrieg in Mitteleuropa einhergingen.
Biografie
1868:
wird am 29. Jänner in Stribach, Gemeinde Dölsach, als uneheliches Kind der Maria Trojer und des Kirchenmalers und Fotografen Georg Egger d. J. geboren, getauft auf den Namen Ingenuin Albuin Trojer
1897 – 1882:
Volksschule der Franziskaner in Lienz
1877:
Bewilligung durch die k. k. Statthalterei Lienz, den Familiennamen Egger zu führen
1881:
Skizzenbücher zeigen die künstlerische Begabung Eggers, diese wird durch den Vater und dessen Freund, den Maler Hugo Engl, gefördert
1884 – 1893:
Akademie der Bildenden Künste in München bei Raupp, von Hackl und von Lindenschmit d. J.
1891:
Der Namenszug Egger-Lienz scheint im Katalog der Ausstellung im Münchner Glaspalast erstmals auf
1894 – 1896:
bis Ende April als freier Maler in München, bis Herbst in Osttirol, danach wieder in München. Studien und Beginn der Ausführung des Gemäldes Ave Maria nach der Schlacht am Bergisel
1897 – 1898:
München. Im Dezember zwei Entwürfe für Das Kreuz. Im Frühjahr und Sommer in Sarnthein und Lienz mit Studien nach Modellen für Das Kreuz
1899:
Heirat mit Laura von Möllwald in Lovrana
1900:
Ordentliches Mitglied der Genossenschaft bildenden Künstler Wiens und Gründungsmitglied des Hagenbundes
1902 – 1905:
erteilt Privatunterricht in seinem Atelier
1906 – 1907:
im Sommer 1906 Aufenthalt in Längenfeld mit Arbeit an der Erstfassung des Totentanzes
1908 – 1909:
im Sommer in Längenfeld, das Mittagessen und Studien zu Haspinger Anno Neun entstehen. Im Jänner 1909 wird Egger-Lienz Mitglied der Wiener Secession
1910:
Das große Kaseingemälde Einzug König Etzels in Wien zur Ausgestaltung der Buffeträume im Wiener Rathaus entsteht. Das Professorenkollegium der Wiener Akademie nominiert Egger-Lienz als Leiter einer Meisterschule an erster Stelle; die Ernennung wird von Erzherzog Franz Ferdinand vereitelt. Austritt aus der Wiener Secession
1911:
wird Mitte September in Hall in Tirol ansässig. In Innsbruck Kontakt mit den Autoren und Künstlern des Brennerkreises
1912:
Lehrtätigkeit an der Großherzoglichen Hochschule für bildende Kunst in Weimar
1913:
gibt seine Lehrtätigkeit in Weimar auf und lässt sich nach einem Aufenthalt in Katwijk aan Zee in Holland (hier entstehen Meeres- und Dünenbilder) im September in St. Justina bei Bozen nieder
1915:
wird zu den Standschützen einberufen und ist auf der Festung Tombio bei Riva del Garda stationiert, bis er Anfang Juni dem Kriegsfürsorgeamt in Bozen zugeteilt wird, für das er Kriegspostkarten entwirft. Entstehung der Lithografie 1915
1916 – 1917:
als Kriegsmaler in Folgaria und Trient tätig. Das monumentale Werk Den Namenlosen entsteht
1918 – 1919:
Die Gemälde Missa eroica, Finale, Kriegsfrauen, Generationen entstehen. 1919 wird Egger-Lienz die Professur an der Wiener Akademie angeboten, die er aber 1920 endgültig ablehnt
1920 – 1922:
In Sarnthein entstehen die Gemälde Der Pflüger, Mahlzeit, Tischgebet und das Landschaftsbild Sigmundskron. 1922 wird er zum Ehrenmitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste gewählt und erhält bei der XIII. Internationalen Ausstellung in Venedig den Großen Preis der Stadt Venedig. Eggers Selbstbildnis wird in die Porträtgalerie der Uffizien in Florenz aufgenommen
1923 – 1924:
Im Sommer 1923 entstehen in Sarnthein Entwürfe zum Gemälde Christi Auferstehung (1924 vollendet) und zur Altarwand der Kriegergedächtniskapelle in Lienz
1925:
lehnt ein neuerliches Angebot der Wiener Akademie zur Übernahme des Abendaktes ab. Die Fresken in der Kriegergedächtniskirche in Lienz werden fertiggestellt; nach Protesten des Dekans verfügt am 6. Mai 1925 das Heilige Offizium in Rom das Gottesdienstverbot in der Kirche. Von der Universität Innsbruck wird Egger-Lienz zum Ehrendoktor, von der Stadt Lienz zum Ehrenbürger ernannt
1926:
stirbt am 4. November im Gründwaldhof in St. Justina
Provenienz
Die Lithografie wurde aus Wiener Privatbesitz erworben.
Verwendete Literatur
Albin Egger-Lienz. Die Sammlung im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum. Katalog der Bestände im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum, bearb. v. Gert Ammann, mit einem Geleitwort von Ila Egger-Lienz, Innsbruck 2001.
Wilfried Kirschl, Albin Egger-Lienz. 1868 – 1926. Das Gesamtwerk, Wien 1977.
Egger-Lienz. 1868 bis 1926, mit einem einleitenden Essay von Kristian Sotriffer, Wien 1983.
Maria Rennhofer, Albin Egger Lienz. Leben und Werk. 1868 – 1926, Wien, München 2000.
Josef Soyka, A. Egger Lienz. Leben und Werke. Monographische Studie, Wien 1925.
- Brief von Egger-Lienz an Maria Egger, Bad Ischl, 14.6.1915, zitiert nach: Wilfried Kirschl, Albin Egger-Lienz. 1868–1926. Das Gesamtwerk, Wien 1977, S. 268.
- Vgl. Maria Rennhofer, Albin Egger Lienz. Leben und Werk. 1868–1926, Wien, München 2000, S. 37.
- Am 23. Mai 1915 erklärte Italien Österreich-Ungarn den Krieg. Die Italienfront verlief vom Stilfserjoch an der Schweizer Grenze über Tirol entlang der Dolomiten, der Karnischen Alpen und des Isonzos bis zur Küste der Adria. Damit befand sich Österreich-Ungarn in einem Dreifrontenkrieg. Die Österreicher konnten Teile der Italienfront zu Beginn der Kampfhandlungen nur ungenügend absichern, es kamen vielfach lediglich örtliche Milizen, Landwehr und Landsturm zum Einsatz, darunter 30.000 Standschützen. Nie zuvor hatte es langwierige Kampfhandlungen im Hochgebirge – bis zu einer Meereshöhe von 3900 Metern – gegeben. Vgl. Gerhard Hirschfeld, Gerd Krumeich, Irina Renz (Hg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 2009, S. 100, 331ff., 442ff., 589ff.; John Keegan, Der Erste Weltkrieg. Eine europäische Tragödie, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 322ff.; Janusz Piekałkiewicz, Der Erste Weltkrieg, Düsseldorf, Wien, New York 1988, S. 249ff.
- Vgl. Gert Ammann, Albin Egger-Lienz, Innsbruck 2001, S. 106.
- Brief von Egger-Lienz an Heinrich Hammer vom 5.11.1915, zitiert nach: Kirschl 1977, S. 269.
- Kristian Sotriffer, Egger-Lienz. 1868 bis 1926, Wien 1983, S. 23.
- An Heinrich Hammer, St. Justina, 5.11.1915, zitiert nach: Kirschl 1977, S. 269.
- Brief an Otto Kunz, St. Justina, 13.8.1915, zitiert nach: Kirschl 1977, S. 269.