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Hrdlicka Alfred, Traiskirchen , 1956

Kalt­na­del­ra­die­rung und Ätzung auf Zink, WV Nr. 71, 53,8×76cm (31,9×39,2cm)

Auf­nah­me­stopp in Trais­kir­chen zwingt zu hek­ti­scher Suche nach Ersatz­quar­tie­ren für Flücht­lin­ge. […] Minis­te­ri­ums­mit­ar­bei­ter sind zum Essen­aus­tei­len abkom­man­diert. […] Die Mit­ar­bei­ter der Schwei­zer Betreu­ungs­fir­ma ORS machen sich auf­grund einer behörd­li­chen Unter­sa­gung straf­bar, wenn sie sich um Neu­an­kömm­lin­ge küm­mern. […] Kon­zep­tio­nel­le Grund­la­gen des Sicher­heits­kon­zep­tes feh­len eben­so wie eine Risi­ko­ana­ly­se und Schutz­maß­nah­men für Ange­stell­te.“ 1
Das Flücht­lings­la­ger Trais­kir­chen mit der kor­rek­ten Bezeich­nung Asyl­auf­nah­me­zen­trum Trais­kir­chen ist bis heu­te das wich­tigs­te Auf­fang­la­ger für poli­ti­sche Flücht­lin­ge in Öster­reich. Pro­ble­me der Unter­brin­gung und Ver­wal­tung sind – wie obi­ge Schlag­zei­len berich­ten – erst kürz­lich wie­der in den Medi­en the­ma­ti­siert wor­den. 1956, im Jahr der Ent­ste­hung von Hrdlick­as Gra­fik Trais­kir­chen, wur­den nach dem Volks­auf­stand in Ungarn Tau­sen­de poli­ti­sche Flücht­lin­ge in das Auf­fang­la­ger auf­ge­nom­men. Dies war die ers­te Ver­wen­dung der Anla­ge als Flüchtlingslager.
In Alfred Hrdlick­as Ätz­ra­die­rung Trais­kir­chen wird ein Blick auf die ankom­men­den Flücht­lin­ge gewor­fen. Die Kof­fer sind noch nicht auf dem Boden abge­stellt. Ein Mann in Uni­form ist soeben dabei, den Bild­raum zu ver­las­sen. Men­schen in dicker Win­ter­be­klei­dung suchen mit erns­tem, trau­ri­gem Blick Kon­takt zu uns.
Vie­le der Ankom­men­den sind trau­ma­ti­siert, haben es gera­de noch geschafft, den Gefah­ren zu ent­kom­men. Müdig­keit und Erschöp­fung wech­seln sich ab mit Unge­wiss­heit und Zukunftsangst.

Inten­si­ve Hell-Dun­kel-Wer­te len­ken die Auf­merk­sam­keit spot­light­ar­tig auf Tei­le der Balus­tra­de, ver­ein­zel­te Gesich­ter und Hän­de. Die wech­seln­de Dich­te des linea­ren Geflech­tes schafft unter­schied­li­che Inten­si­tä­ten und Akzen­tu­ie­run­gen im Bild. Durch das fluk­tu­ie­ren­de Licht ver­leiht Hrdlicka der Dar­stel­lung eine dra­ma­ti­sche Lebendigkeit.
Das Blatt Trais­kir­chen ist Teil des etwa 900 Blät­ter umfas­sen­den druck­gra­fi­schen Gesamt­werks Hrdlick­as. Es stammt aus der Serie Tau­send­und­ei­ne Nacht. Die­se frü­he Serie zeich­net sich durch eine sehr dich­te und vor allem aggres­si­ve Bear­bei­tung des Druck­stocks aus. Hrdlicka arbei­te­te tags­über als Bild­hau­er, die Arbeit an Druck­gra­fi­ken hat­te er sich für sei­ne nächt­li­che Arbeits­zeit auf­ge­ho­ben.2 Zwei­fels­oh­ne beein­flusst die­ser Umstand die Aus­sa­ge sei­ner Bild­wer­ke. In den Gra­fi­ken ist eine gro­ße Stil­le spür­bar, als wären sei­ne Dar­stel­lun­gen Traum­bil­der. Fah­le Gesich­ter drin­gen aus der Dun­kel­heit ins Licht. Die dif­fu­se Beleuch­tungs­si­tua­ti­on raubt den Figu­ren ihre voll­plas­ti­sche Körperlichkeit. 

Das Blatt ist als Ätz­ra­die­rung ent­stan­den. Hrdlicka zog die­ses Tief­druck­ver­fah­ren der schnel­le­ren Hand­zeich­nung vor: Hier war er in weit höhe­rem Maße gefor­dert, sei­ne Vor­stel­lungs­kraft und Kom­bi­na­ti­ons­fä­hig­keit unter Beweis zu stel­len“3. Als Bild­hau­er wähl­te Hrdlicka Bild­trä­ger aus, die ihm Wider­stand ent­ge­gen­setz­ten, denn er hat­te ein gewis­ses Miss­trau­en […] gegen das, was ihm zu leicht, zu selbst­ver­ständ­lich von der Hand geht“4.
Von die­sem Druck­stock ent­stand kei­ne Auf­la­ge, son­dern es wur­den nur weni­ge als Pro­be­dru­cke bezeich­ne­te Abzü­ge ange­fer­tigt. Pro­be­dru­cke sind Zustands­dru­cke. Sie ent­ste­hen in gerin­ger Zahl vor oder unmit­tel­bar nach Fer­tig­stel­lung des Druck­stocks und die­nen dem Künst­ler zur Kon­trol­le. Ein wei­te­res mit Flücht­lings­la­ger beti­tel­tes Blatt wur­de vom Künst­ler fast bis zur Unkennt­lich­keit über­ar­bei­tet.5 Die Ätz­ra­die­run­gen dien­ten Alfred Hrdlicka häu­fig zum per­sön­li­chen Gebrauch: als Arbeits­vor­la­gen für skulp­tu­ra­le Arbeiten.

Jeder Rea­lis­mus ist anders als die Rea­li­tät.6
Zu einem gewis­sen Grad beinhal­tet jede Dar­stel­lung die indi­vi­du­el­le Sicht des Künst­lers. Gleich­zei­tig erhebt ein rea­lis­ti­sches Kunst­werk den Anspruch, die Reprä­sen­ta­ti­on eines reel­len Sach­ver­hal­tes zu sein. Kunst­wer­ke des kri­ti­schen Rea­lis­mus ent­hal­ten Kom­po­nen­ten poli­ti­scher Agi­ta­ti­on. Der Künst­ler voll­führt mit sei­ner Arbeit einen Draht­seil­akt zwi­schen Fik­ti­on und Fak­ten­dar­stel­lung, den der deut­sche Kunst­his­to­ri­ker und Jour­na­list Peter Sager wie folgt cha­rak­te­ri­siert: Die Mög­lich­kei­ten und mehr noch die Gren­zen des zeit­ge­nös­si­schen Rea­lis­mus zei­gen sich am offen­kun­digs­ten dort, wo er poli­tisch sein und zugleich Kunst blei­ben möch­te.“7
Für Hrdlicka gab es kei­ne unpo­li­ti­sche Kunst. Ästhe­tik war für ihn nicht Selbst­zweck, son­dern Mit­tel zur sozi­al­po­li­ti­schen Aus­sa­ge.“8 Das L’art-pour‑l’art-Prinzip hät­te er nie für sich selbst akzeptiert.
Mit Trais­kir­chen the­ma­ti­sier­te Hrdlicka einen Topos, der in den Fokus media­ler Auf­merk­sam­keit gelangt war. Ermach­te auf Not und Elend der Flücht­lin­ge nach dem Ungarn­auf­stand von 1956 auf­merk­sam. Der Künst­ler stell­te kein Dra­ma, kei­ne Tra­gö­die dar, son­dern den sach­lich-nüch­ter­nen Bestand – das War­ten und Aus­har­ren der Flücht­lin­ge als Sinn­bild ihrer ers­ten Kon­takt­auf­nah­me mit einem neu­en Land. Er spitz­te die Situa­ti­on nicht auf über­bor­den­de Emo­tio­na­li­tät zu, son­dern zeig­te schlicht einen Sach­ver­halt auf.

Erich Les­sing, öster­rei­chi­scher Foto­graf und Zeit­ge­nos­se Hrdlick­as, hielt die Ereig­nis­se des Ungarn­auf­stan­des 1956 in einer Serie von Schwarz-Weiß-Fotos fest. Wäh­rend Les­sing das Zeit­ge­sche­hen mit sei­ner Kame­ra an Ort und Stel­le doku­men­tier­te, zeigt Hrdlicka die ers­te Kon­fron­ta­ti­on der Flücht­lin­ge mit dem Land, das ihnen Asyl gewäh­ren soll. Durch die pro­non­cier­te Dar­stel­lungs­wei­se woll­te Hrdlicka die öffent­li­che Hand unter Zug­zwang set­zen, sie dazu zwin­gen zu han­deln. Sei­ner Gra­fik lag somit eine neu­ar­ti­ge Aktua­li­tät zugrun­de. Sie stell­te kei­ne Aus­sa­ge aus der Ver­gan­gen­heit dar, son­dern wur­de zur poli­ti­schen Agi­ta­ti­on, die sich an die unmit­tel­ba­ren Zeit­ge­nos­sen des Jah­res 1956 richtete.
Demons­trie­ren, beten, schrei­ben“, for­mu­liert der fran­zö­si­sche Poli­tik­wis­sen­schaft­ler und His­to­ri­ker Nico­las Bau­quet in einem 2006 her­aus­ge­ge­be­nen Bild­band über den Ungarn­auf­stand von 1956: Das alles erscheint recht lächer­lich ange­sichts des Dra­mas, das sich hin­ter dem Eiser­nen Vor­hang abspielt. Bald geben die Lei­den der Ungarn den West­eu­ro­pä­ern Gele­gen­heit, ihre Soli­da­ri­tät kon­kret unter Beweis zu stel­len. Rund 200000 Ungarn über­que­ren in weni­gen Wochen die West­gren­ze des Lan­des, und die Öster­rei­cher berei­ten sich auf sie vor, um sie anstän­dig emp­fan­gen zu kön­nen. Ande­re Län­der wie Frank­reich und Deutsch­land, vor allem aber Kana­da und die Ver­ei­nig­ten Staa­ten gewäh­ren den Flücht­lin­gen Asyl – es wird sich für vie­le als end­gül­tig erwei­sen.“9

Pro­ve­ni­enz

Die Gra­fik wur­de 1988 als Teil eines 900-tei­li­gen Kon­vo­luts aus Wie­ner Pri­vat­be­sitz erworben.

Bio­gra­fie

1928: gebo­ren in Wien
Auf­ge­wach­sen in einer Wie­ner Arbei­ter­fa­mi­lie, erlebt Hrdlicka in sei­ner Kind­heit den Faschis­mus in Öster­reich und des­sen Aus­wir­kun­gen ganz unmit­tel­bar. Sein Vater ist Kom­mu­nist und wird zwei­mal ver­haf­tet. Früh ent­wi­ckelt sich eine anti­bür­ger­li­che, mit sozia­lis­ti­schen Ideen ver­bun­de­ne Hal­tung, die zeit­le­bens anhal­ten soll.
1943 – 1945: Zahntechnikerlehre
1946 – 1952: Stu­di­um der Male­rei an der Aka­de­mie der bil­den­den Küns­te in Wien, bei Albert Paris Güters­loh und Josef Dobrowsky
1952 – 1957: Stu­di­um der Bild­haue­rei bei Fritz Wotruba 
Ab 1954: Hrdlicka hat ein eige­nes Bild­hau­er­ate­lier, in dem unter schwie­ri­gen Arbeits­be­din­gun­gen ers­te grö­ße­re Stein­skulp­tu­ren ent­ste­hen. Er lebt bis 1961 fast aus­schließ­lich von Gele­gen­heits- und Hilfsarbeiten
1962: wird Mit­glied der Wie­ner Secession
1963: über­nimmt die Lei­tung der Bild­hau­er­klas­se bei der Inter­na­tio­na­len Som­mer­aka­de­mie in Salz­burg, an der auch Oskar Kokosch­ka arbeitet.
Teil­nah­me Hrdlick­as an der 32. Bien­na­le in Vene­dig (Skulp­tur und Gra­fik) gemein­sam mit dem Maler Her­bert Boeckl. Die dort aus­ge­stell­ten Wer­ke Mar­s­yas I sowie die ers­ten Fas­sun­gen von Mar­s­yas II und III machen den Künst­ler inter­na­tio­nal bekannt
1966: Bild­hau­er­ar­bei­ten vor allem über die Mas­sen­mör­de­rin Mar­tha Beck und den Haar­mann
1967: Ent­hül­lung des Ren­ner-Denk­mals am Ring in Wien führt zu Pro­test­ver­samm­lun­gen und ande­ren Aktio­nen der Liga gegen ent­ar­te­te Kunst. Teil­nah­me an der 9. Bien­na­le São Pau­lo mit gro­ßen Bild­hau­er­zeich­nun­gen und Radierungen
1968: LSD-Ver­su­che für das Max-Planck-Insti­tut in München
1969: der Zyklus Ran­dolec­til wird erst­mals gezeigt. Mit­wir­kung am LSD-Farb­film im ZDF
1970: Beginn der Arbei­ten an den Skulp­tu­ren Melan­cho­lie und Ham­let. Der Zyklus Plöt­zen­seer Toten­tanz ent­steht für das Evan­ge­li­sche Gemein­de­zen­trum Berlin-Plötzensee
1971: Beru­fung an die Aka­de­mie der bil­den­den Küns­te in Stuttgart
1973: Staat­li­che Hoch­schu­le für bil­den­de Kunst, Ham­burg; anschlie­ßend Lehr­tä­tig­keit in Berlin
1973: Teil­nah­me an der Bien­na­le Middelheim
1974: Voll­endung der Skulp­tur Kör­per­hal­lu­zi­na­tio­nen
1975: Voll­endung der Skulp­tur Gum­mi­tod. Beginn der Arbeit an der Skulp­tu­ren­grup­pe Johan­nes der Täu­fer. Im glei­chen Jahr ent­steht die Mar­mor­skulp­tur Das schau­ri­ge Ende des Pier Pao­lo Paso­li­ni, bei der Gewalt bis hin zur phy­si­schen Zer­stö­rung den his­to­ri­schen Hin­ter­grund bil­det. Für Hrdlicka war Paso­li­ni ein moder­ner Mär­ty­rer. Eine Betei­li­gung an der docu­men­ta 6 1977 in Kas­sel ver­wei­gert der Künst­ler, da er die Insti­tu­ti­on und die Zie­le der docu­men­ta ablehnt
1977 – 1981: Arbei­ten am Wup­per­ta­ler Denk­mal für Fried­rich Engels
1977: ers­te Ent­wür­fe für die Gestal­tung des Stock-im Eisen-Plat­zes in Wien
1979: Auf­trag für eine Grup­pe von Bron­ze­re­li­efs über die Geschich­te des Men­schen­bil­des. Hrdlicka beginnt mit Kain und Abel, Ödi­pus, Robes­pierre und Gior­da­no Bruno
1981: Beginn der Arbeit Ein Denk­mal für Nicaragua
1982: Teil­nah­me an der Bien­na­le in Venedig
1983: Auf­trag und Arbeits­be­ginn am Ham­bur­gerGegen­denk­mal und am Wie­ner Denk­mal gegen Krieg und Faschismus
1985: Fer­tig­stel­lung und Ent­hül­lung vom Ham­bur­ger Feuersturm
1986: Beginn mit der Arbeit am Tor der Gewalt für das Mahn­mal gegen Krieg und Faschis­mus für den Alber­ti­na­platz in Wien, das 1988 ent­hüllt und 1991 fer­tig­ge­stellt wird
1988 – 1997: Pro­fes­sor an der Hoch­schu­le für ange­wand­te Kunst in Wien
1988 – 1990: Die Neue Gale­rie der Stadt Linz erwirbt das rund 900 Blät­ter umfas­sen­de druck­gra­fi­sche Gesamt­werk des Künstlers
Seit den 1990er-Jah­ren nimmt das Lei­den im Leben Alfred Hrdlick­as zuneh­mend Raum ein, bedingt durch den Tod sei­ner Frau Bar­ba­ra und sei­ner Ver­trau­ten Flo­ra sowie durch die Schä­di­gung sei­ner eige­nen Gesund­heit durch scho­nungs­lo­se Arbeit und exzes­si­ven Lebensstil
1992: Ent­wurf einesBüh­nen­bil­des für Lui­gi Nonos Intol­ler­an­za 1960 in der Staats­oper Stuttgart
1996: Büh­nen­bild für die Insze­nie­rung von Kokosch­kas Mör­der, Hoff­nung der Frau­en in Hel­lerau
2009: stirbt am 5. Dezem­ber 2009 in Wien 

  1. Tageszeitung Der Standard, 6. August 2014, S. 8.
  2. Vgl. Michael Lewin, Alfred Hrdlicka. Das Gesamtwerk, Bd. 3: Druckgraphik, Wien und Zürich 1989, , S. XI.
  3. Ebd.
  4. Ebd, S. X.
  5. Vgl. ebd., S. 52.
  6. Peter Sager, Realismus – Begriff und Geschichte. Neue Formen des Realismus. Kunst zwischen Illusion und Wirklichkeit, 2. verb. Auflage, Köln 1974, S. 9.
  7. Ebd., S. 187.
  8. Ebd., S. XI.
  9. Nicolas Bauquet, „Die Revolution in den Augen des Westens: Schock und Ohnmacht“, in: Yael Azoulay (Hg.), Budapest 1956. Die ungarische Revolution, Wien 2006, S. 228–239, hier S. 230–231.

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