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Alfred Kubin, Der Sumpf , 1903–05

Feder in Tusche, Spritz­tech­nik auf Katas­ter­pa­pier, 30,7 x 37,9 cm (23,3 x 31,4 cm)

Mit ihren Armen balan­cie­rend, ver­sucht eine jun­ge Frau in den Untie­fen eines Sump­fes Halt zu fin­den. Ihre bedäch­ti­gen Bewe­gun­gen zie­hen wei­te Krei­se auf der Was­ser­ober­flä­che. Der nack­te Ober­kör­per, der sich auf dem Was­ser wider­spie­gelt, zeich­net sich fahl gegen den dunk­len Hin­ter­grund ab. Hin­ter ihrem Rücken ragen drei krö­ten­ähn­li­che Rie­sen­mons­ter auf, die die Frau aber nicht wahr­zu­neh­men scheint.


Als Bild­trä­ger wähl­te Kubin – wie sehr häu­fig für sei­ne Zeich­nun­gen – Katas­ter­pa­pier, das die Tusche der­ar­tig auf­zu­sau­gen ver­moch­te, daß die Zeich­nung mit der Unter­la­ge förm­lich ver­wuchs“1 . Neben sei­ner Tätig­keit als Zeich­ner schuf Kubin auch Illus­tra­tio­nen für vie­le lite­ra­ri­sche Werke.

Der Kunst­his­to­ri­ker Chris­toph Brock­haus, der über das zeich­ne­ri­sche Früh­werk Kubins pro­mo­vier­te, stell­te fol­gen­de Kri­te­ri­en zur Unter­schei­dung von Zeich­nun­gen und Illus­tra­tio­nen zusam­men: Die freie Zeich­nung ist stren­ger, abge­schlos­se­ner kom­po­niert und häu­fig durch eine Umriß­li­nie gerahmt, laviert, aqua­rel­liert und – in Ana­lo­gie zur Aqua­tin­ta­tech­nik – gespritzt, so daß die Linie in ihrer schrei­ben­den‘ Wir­kung zurück­tritt; Fak­to­ren, die ins­ge­samt die bild­haft-male­ri­sche Auf­fas­sung der Zeich­nung unter­strei­chen. Die Illus­tra­ti­ons­zeich­nung dage­gen ist vor­zugs­wei­se offen zu den Rän­dern hin und ver­dich­tet sich sel­ten zu geschlos­se­nen Flä­chen, um sich dadurch dem Cha­rak­ter des Text­spie­gels anzu­pas­sen, zu ihm eine Bezie­hung auf­zu­neh­men. Sie demons­triert schon in der Anla­ge ihre die­nen­de, para­phra­sie­ren­de Auf­ga­be und erfüllt damit einen Grund­satz jeder Illus­tra­ti­ons­kunst.“2


Die Zeich­nung Kubins weist am lin­ken unte­ren Rand die Beti­te­lung Der Sumpf auf. Rechts unten befin­det sich eine Wid­mungs­in­schrift, die Dein Kubin lau­tet und sich in Grö­ße und Aus­füh­rung von der Beti­te­lung unter­schei­det. Es ist anzu­neh­men, dass die Wid­mung, ver­mut­lich an Wolf­gang Gur­litt, erst wesent­lich spä­ter – evtl. in den spä­ten 1940er- oder 1950er-Jah­ren, als sich eine freund­schaft­li­che Bezie­hung zwi­schen Kubin und sei­nem Gale­ris­ten Gur­litt ent­wi­ckel­te 3 – hin­zu­ge­fügt wur­de. Der zeit­li­che Ent­ste­hungs­rah­men von Der Sumpf wird in der For­schung mit 1903-05 ein­ge­grenzt. Die Zeich­nung lässt sich sehr gut mit Wer­ken aus der Weber-Map­pe (1903) ver­glei­chen. Letz­te­re ver­mit­teln ein pes­si­mis­ti­sches Welt­bild vom Schick­sal der Men­schen, illus­trie­ren Ängs­te und Nöte sowie glo­ba­le Schre­ckens­vi­sio­nen wie Krieg, Hun­gers­not und Epi­de­mie. Kubins Früh­werk zeigt Ein­flüs­se des Sym­bo­lis­mus, wie er im Fin de Siè­cle üblich war. Sei­ne Vor­bil­der Max Klin­ger, Odi­lon Redon und James Ensor sind in inhalt­li­cher wie auch in sti­lis­ti­scher Hin­sicht spür­bar. Der Wil­le zur Prä­sen­ta­ti­on einer Gedan­ken­kunst ist stär­ker als jener nach Dar­stel­lung der sicht­ba­ren Realität.

In der ers­ten Zeich­nung der Weber-Map­pe, Des Men­schen Schick­sal III, zieht eine rie­sen­haf­te, nack­te Frau mit ver­hüll­tem Kopf einen Rechen durch das bedroh­te Men­schen­volk, das sich zu ret­ten ver­sucht. Das nega­ti­ve Frau­en­bild, geprägt durch per­sön­li­che Erleb­nis­se4, Ein­flüs­se Fried­rich Nietz­sches, Arthur Scho­pen­hau­ers5 und Otto Wei­nin­gers, des­sen Werk Geschlecht und Cha­rak­ter Kubin sicher kann­te, gewinnt für Kubin in die­ser Schaf­fens­pha­se Oberhand.

In einem 1902 ent­stan­de­nen auto­bio­gra­fi­schen Text­frag­ment bezeich­net Kubin untreue Frau­en als Krö­ten6. Die krö­ten­ähn­li­chen Tie­re im Hin­ter­grund von Der Sumpf könn­ten als unter­drück­te Libi­do des Künst­lers7 inter­pre­tiert wer­den, als ani­ma­li­scher Trieb, der im Man­ne steckt – evo­ziert durch das ewig locken­de Weib. Das Motiv des Sump­fes kommt in Kubins ein­zi­gem Roman, Die ande­re Sei­te (1909), eben­falls vor: Beim Sumpf erreich­te uns die Fins­ter­nis. Ein fau­ler, sinn­be­täu­ben­der Geruch stieg auf. […] Die Feuch­tig­keit des Bodens hemm­te unse­ren Atem. Ein Huschen und Rascheln hub an, die Dämo­nen des Sump­fes reg­ten sich.“8 In Kubins Gedan­ken­welt obliegt es der Frau, Unheil über die Mensch­heit zu brin­gen. Fol­ge­rich­tig trägt auch im Roman Die ande­re Sei­te der Prot­ago­nist Pate­ra, Kubins Schöp­fer einer mys­ti­schen und unheil­vol­len Traum­welt, andro­gy­ne Züge.

Eine zeit­li­che Nähe der Gra­fik Der Sumpf zur Ent­ste­hung der Weber-Map­pe ist sti­lis­tisch gese­hen sehr nahe­lie­gend. Kubin plan­te, par­al­lel zur Weber-Map­pe eine zwei­te Map­pe zum The­ma Weib her­aus­zu­brin­gen. In der For­schung wird ange­nom­men, dass die­ses Pro­jekt aus finan­zi­el­len Grün­den nicht rea­li­siert wer­den konn­te9. Die Zeich­nung Der Sumpf ist zwar sorg­sam aus­ge­führt, hat aber kei­ne Rah­mung, kei­ne Datie­rung und auch kei­ne aus der Zeit der Ent­ste­hung stam­men­de Signa­tur. Vor­lie­gen­des Blatt könn­te eine Vor­la­ge für Licht­dru­cke, ein Repro­duk­ti­ons­ver­fah­ren, das Kubin auch für die Weber-Map­pe wähl­te, gewe­sen sein.

Sym­bo­lis­mus

Im wei­te­ren Sin­ne Bezeich­nung für geis­ti­ge Bewe­gun­gen, die sich auf sym­bo­li­sche Deu­tung oder Aus­drucks­wei­se grün­den, im enge­ren Sin­ne eine von etwa 1880 bis 1910 wäh­ren­de künst­le­ri­sche Strö­mung. Die Male­rei des Sym­bo­lis­mus wid­me­te sich allem, was hin­ter der äuße­ren Erschei­nung der Wirk­lich­keit lag. Sie erzähl­te in geheim­nis­vol­len Bil­dern aus der Welt der Träu­me, der Visio­nen, der Hal­lu­zi­na­tio­nen, der Fan­ta­sie und der Emp­fin­dun­gen. Die bevor­zug­ten Bild­the­men – Lie­be, Sün­de, Lei­den­schaft, Krank­heit, Ver­fall und Tod – spie­geln oft­mals die Aus­ein­an­der­set­zung der Künst­ler mit christ­li­chen oder eso­te­risch-reli­giö­sen Vor­stel­lun­gen wider. Zugleich sind sie häu­fig auch Aus­druck der Flucht in Athe­is­mus und irdi­sche Paradiese“.

Bio­gra­fie

1877:

am 10. April in Leit­me­ritz in Böh­men geboren

1879 – 1882:

Kind­heit in Salzburg

1882:

Über­sied­lung der Fami­lie nach Zell am See

1887:

Tod der Mut­ter am 8. Mai

1887 – 1888:

Besuch des Gym­na­si­ums in Salzburg

1888 – 1891:

Gemein­de­schu­le in Zell am See

1891 – 1892:

Kunst­ge­wer­be­schu­le in Salzburg

1892 – 1896:

Lehr­zeit bei dem Foto­gra­fen Beer in Klagenfurt

1896:

Selbst­mord­ver­such im Okto­ber am Grab der Mutter

1897:

von Jän­ner bis April Wehr­dienst, der durch eine schwe­re Ner­ven­krank­heit been­det wird

1898 – 1901:

Besuch der pri­va­ten Kunst­schu­le an der Kunst­aka­de­mie München

1902:

ers­te Aus­stel­lung bei Paul Cas­si­rer in Berlin

1903:

ers­tes Map­pen­werk. Hans von Weber ver­öf­fent­licht in Mün­chen 15 Zeich­nun­gen in Licht­druck­re­pro­duk­tio­nen (Auf­la­ge: 1000 Exem­pla­re sowie wei­te­re 100 als signier­te Vor­zugs­aus­ga­be). Das Lentos Kunst­mu­se­um Linz besitzt eine voll­stän­di­ge Aus­ga­be die­ses bedeu­ten­den Frühwerks.

1903:

am 1. Dezem­ber stirbt Kubins Braut Emmy Bay­er; es folgt eine schwe­re see­li­sche Krise

1904:

Ende März Hei­rat mit Hed­wig Gründ­ler, geb. Schmitz

1905:

Rei­se nach Süd­frank­reich und Italien

1906:

ers­ter Auf­ent­halt in Paris. Erwirbt im Juni das Schlöss­chen Zwick­ledt bei Wern­stein am Inn und zieht von Mün­chen dorthin

1907:

Rei­se nach Bos­ni­en und Dal­ma­ti­en. Am 2. Novem­ber ver­stirbt sein Vater

1908:

Rei­se mit Fritz von Herz­ma­novs­ky-Orlan­do nach Ober­ita­li­en. Nie­der­schrift des bedeu­ten­den Romans Die ande­re Sei­te, der 1909 mit 52 Zeich­nun­gen des Künst­lers in Mün­chen und Leip­zig bei Piper erscheint

1909:

Bal­kan­rei­se mit Karl Wolfs­kehl. Bei­tritt zur Neu­en Künstlervereinigung

1911:

im Herbst Rei­se nach Prag

1912:

wird Mit­glied der Münch­ner Künst­ler­ver­ei­ni­gung Blau­er Reiter

1914:

zwei­te Rei­se nach Paris

1916:

Beschäf­ti­gung mit der Leh­re des Bud­dhis­mus; see­li­sche Krise

1921:

ers­te Ein­zel­aus­stel­lung bei Goltz in München

1924:

ers­ter Auf­ent­halt in der Schweiz

1930:

Mit­glied der Preu­ßi­schen Aka­de­mie der Küns­te in Berlin

1930 – 1940:

zahl­rei­che Som­mer­auf­ent­hal­te im Böhmerwald

1937:

gro­ße Aus­stel­lung in der Wie­ner Alber­ti­na aus Anlass des 60. Geburts­tags. Ernen­nung zum Professor

1947:

Ehren­bür­ger der Stadt Linz

1948:

Tod sei­ner Frau Hed­wig am 15. August

1949:

Mit­glied der Baye­ri­schen Aka­de­mie der Schö­nen Küns­te in München

1951:

Öster­rei­chi­scher Staats­preis für bil­den­de Kunst

1952:

Preis der Bien­na­le in Venedig

1955:

Preis der Bien­na­le in São Paulo

1957:

Gro­ßes Ehren­zei­chen für Kunst und Wissenschaft

1959:

stirbt am 20. August in Zwickledt

Provenienz

Die Gra­fik wur­de 1954 in den Bestand der Neu­en Gale­rie der Stadt Linz (Vor­gän­ger­in­sti­tu­ti­on des Lentos Kunst­mu­se­um Linz) auf­ge­nom­men. Sie stammt aus dem Besitz des Kunst­händ­lers und ers­ten Direk­tors der Neu­en Gale­rie Wolf­gang Gurlitt.

Ver­wen­de­te Literatur

Alfred Kubin, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, Neue Gale­rie der Stadt Linz, Linz 1947.

Alfred Kubin (1877 – 1955) zum 100. Geburts­tag. Hom­mage à Kubin, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, Neu­en Gale­rie der Stadt Linz – Wolf­gang Gur­litt Muse­um, Linz 1977.

Alfred Kubin: Dämo­nen und Nacht­ge­sich­te. Mit einer Selbst­dar­stel­lung des Künst­lers und 130 Bild­ta­feln, Dres­den 1926.

Alfred Kubin, Die ande­re Sei­te. Ein phan­tas­ti­scher Roman, Mit 51 Zeich­nun­gen und einem Plan, Nach­wort von Josef Wink­ler, Frank­furt am Main 2009.

Andre­as Gey­er, Alfred Kubin. Träu­mer auf Lebens­zeit, Schrif­ten zur Lite­ra­tur und Spra­che in Ober­ös­ter­reich, Bd. 3, hrsg. v. Adal­bert-Stif­ter-Insti­tut des Lan­des Ober­ös­ter­reich, Wien, Köln, Wei­mar 1995.

Wolf­gang Mül­ler-Thal­heim, Ero­tik und Dämo­nie im Werk Alfred Kubins. Eine psy­cho­pa­tho­lo­gi­sche Stu­die, Wies­ba­den 1970.

  1. Christoph Brockhaus, „Alfred Kubin. 1877–1959“, [Gedruckter Essay. Auszug aus einem nicht näher bekannten Buch], o. O., o. D., S. 40.
  2. Ebd., S. 42f.
  3. Vgl. Alfred Kubin, Ausstellungskatalog, Neue Galerie der Stadt Linz, Linz 1947, S. 5: Im Ausstellungskatalog zur Kubin-Ausstellung vom Juni 1947, mit der die Neue Galerie der Stadt Linz, Vorgängerinstitution des Lentos, eröffnet wurde, befindet sich ein Textbeitrag von Wolfgang Gurlitt, des Gründers der Neuen Galerie; darin bezeichnet er den Zeichner mehrmals als „lieben Freund“.
  4. Nackte Frauen kommen im Frühwerk des Künstlers – mit negativen Konnotationen besetzt – recht häufig vor. In Dämonen und Nachtgesichte (Dresden 1929) berichtet Kubin auf S. 8, wie er im Alter von elfeinhalb Jahren „durch eine ältere Frau in sexuelle Spielereien verwickelt wurde, was mich maßlos aufregte und bis in meine frühe Manneszeit seine Schatten warf“.
  5. Ebd., S. 19: „Ich geriet wieder an Schopenhauer und las in wenig Tagen seine wichtigsten Werke mit stürmischem Eifer. In meiner trostlosen Stimmung fand ich, daß die pessimistische Weltanschauung die einzig richtige sei, und schwelgte in diesen Ideen, wodurch meine allgemeine Unzufriedenheit nur gefördert wurde.“
  6. Alfred Kubin: [Weiber-Fragment], um 1901/02, in: Andreas Geyer, Alfred Kubin. Träumer auf Lebenszeit, Wien, Köln, Weimar 1995, S. 241: „Wenn ein Weib seine Liebe verspricht, durch dieses Versprechen die rührende ganze Liebe eines Mannes sich erringt und ihn hintnach dennoch betrügt in irgendeiner Form, durch seine ungetreuen Gedanken oder einer That das bliebe sich am Ende ganz gleich. Was könnte man mit einer solchen eckelhaften Kröte denn machen??“
  7. Seine unterdrückte Sexualität thematisiert Kubin in dem Textfragment „Aus Kubin, des Narren, Leben“, ca. 1899–1902, in: Geyer 1995, S. 241, wo es lautet: ‚‚Verdammte Wichserei muß ein Ende haben‘, dachte sich Kubin, und er ging auf die ‚Suche‘. – Und er suchte und fand. – Er war dort wo die lange Zeile der Theresienstraße mit der noch längeren ‚August Street[‘] zusammentrifft, dort wo sich ‚Germanias‘ rauher Wohlgeruch mit Minnas mildem Mösenduft, und der herben Atmosphäre der gegenüberliegenden Schnepfenkneipe so schön vermischt […].“
  8. Alfred Kubin, Die andere Seite, Originalausg: 1909, Zitat aus dem Reprint: Frankfurt am Main 2009, S. 118.
  9. Vgl. Geyer 1995, S. 54.

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