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Alfred Kubin, Orakel , 1941

Feder in Tusche, laviert und aqua­rel­liert, auf Büt­ten­pa­pier, 37,7 x 28 cm

Zwick­ledt, 10/I 45 


Lie­ber Freund Gurlitt – 

Ja – es ist lei­der so wie Sie sagen u. schreiben
und da es nichts Ange­neh­mes zu mel­den gibt –
schweigt man lie­ber gänzlich –
Immer­hin ich bin leid­lich wohl­auf bis auf die Nerven –
m. Frau war aber län­ger krank –
Ich dürf­te eine rich­ti­ge Auf­bau­ar­beit ja kaum mehr erleben
Den­noch u. für mich mache ich auf­tau­chen­de Probleme
und erle­be auch da noch gestal­te­ri­sche Freu­de die mich
in bes­se­re Regio­nen ent­führt – Sonst, ver­le­ge­risch wer­de ich
natür­lich auch still­ge­legt /​Auslandswünsche kann ich auch
nicht befrie­di­gen zu mühsam/​In 3 Mona­ten tre­te ich ins 69! –
seit die ers­ten Bom­ben auf Pas­sau vor Kur­zem fie­len ist die
Stö­rung aller­dings größer. –
In Trau­er bin ich auch um d. Tod m. jün­ge­ren Schwester –
Also eine gute Wand­lung für 1945 wün­sche ich Ihnen


Ihr alter AK.1


Ein paar Mona­te vor dem Ende des Zwei­ten Welt­kriegs schrieb Alfred Kubin eine Gruß­kar­te an sei­nen Freund, den Grün­der und Direk­tor der Neu­en Gale­rie der Stadt Linz, Wolf­gang Gur­litt, mit oben ste­hen­dem Inhalt. Die Kar­te befin­det sich eben­so wie die Zeich­nung Ora­kel im Besitz des Lentos Kunst­mu­se­um Linz.

Kubin leb­te zu die­ser Zeit in gro­ßer Zurück­ge­zo­gen­heit in Zwick­ledt bei Wern­stein am Inn. Die Wir­ren des Zwei­ten Welt­kriegs haben auch ihn in sei­ner länd­li­chen Idyl­le nicht völ­lig unbe­hel­ligt gelas­sen: Die nächt­li­che Beschie­ßung von Zwick­ledt am 1. / 2. Mai 1945 erfor­der­te drei Todes­op­fer. Wir ver­brach­ten die­se Nacht im Kel­ler, der voll­ge­stopft war noch von sie­ben ober­schle­si­schen Flücht­lin­gen und eini­gen Nach­barn, die glaub­ten, unser Gewöl­be sei fes­ter als das ande­re. Das Geschütz­feu­er war von deut­scher Sei­te pro­vo­ziert; ich hat­te nur mei­ne Ori­gi­na­le gebor­gen, aber wir hat­ten noch Glück, wenn auch das alte Gebäu­de vom Gra­nat­ha­gel schwer getrof­fen war und bis heu­te nur mit Bre­schen oben­hin geflickt wer­den konn­te. Eine see­li­sche Star­re, die mein bewuß­tes Wesen wäh­rend der grau­en­haf­ten Stun­den völ­lig aus­füll­te, half auch dar­über hin­weg. Am zei­ti­gen Mor­gen des 3. Mai 1945 erschien als ers­ter Befrei­er ein US-Sol­dat […].“2


Die gestal­te­ri­sche Freu­de, die mich in bes­se­re Regio­nen führt“ – wie Kubin in sei­ner Gruß­kar­te schreibt –, könn­te auch die trei­ben­de Kraft für die Ent­ste­hung der Feder­zeich­nung Ora­kel gewe­sen sein. Kubin konn­te damit die Rea­li­tät des Kriegs­all­tags aus­blen­den. Im zeich­ne­ri­schen Werk tritt der Meis­ter also – wie vie­le sei­ner Zeit­ge­nos­sen – den Weg in die inne­re Emi­gra­ti­on an. Er ver­legt – der Titel der Zeich­nung ver­weist dar­auf – den Ort der Hand­lung in die Anti­ke. Auf ver­schlüs­sel­tem Wege konn­te er somit viel­leicht jene sehn­suchts­vol­le Fra­ge nach dem Ende des Krie­ges stellen.

Die Sze­ne­rie in Ora­kel ist als ein fel­si­ges Gelän­de ent­wor­fen. Im Vor­der­grund erken­nen wir eine gro­ße weib­li­che Figur im Pro­fil, die sich mit ihrem Rücken und den dun­kel gefie­der­ten Flü­geln an einer schrä­gen Fels­wand abstützt. Im Ver­gleich zu dem sich ihr nähern­den Mann wirkt die nack­te weib­li­che Figur über­mensch­lich groß. Ihr Blick ist starr und ernst gera­de­aus gerich­tet. Sie scheint der Welt ent­rückt zu sein. In der Bild­tie­fe erken­nen wir einen mit einem Len­den­schurz beklei­de­ten Mann, der sich der Chi­mä­re zu nähern scheint. Dem Bild­ti­tel ent­spre­chend han­delt es sich bei der weib­li­chen Figur um eine Sibyl­le, eine Frau also, die, von einem Gott begeis­tert, in der Eksta­se die Zukunft kün­det“3.


Doch wen meint Kubin mit der Dar­stel­lung der Sibyl­le? Könn­te es sein, dass er sich selbst ins Bild setz­te? Der Künst­ler sah sich auf jeden Fall in einer Außen­sei­ter­rol­le. Er selbst schrieb dazu: Es ist eine weit­ver­brei­te­te und all­be­kann­te Ansicht, daß der Künst­ler sei­ner Zeit vor­aus­eilt, wes­halb er, falls er eige­ne Wege geht, von der Mit­welt nicht viel Ver­ständ­nis erwar­ten darf.“4

Als Meis­ter der scharf­sin­ni­gen Feder­zeich­nung war er im Drit­ten Reich ver­femt und auch sei­ne Bücher wie Aben­teu­er einer Zei­chen­fe­der konn­ten zu die­ser Zeit nicht ohne Wei­te­res publi­ziert wer­den. In einem Brief an Her­mann Hes­se erläu­tert Kubin dazu: Herr R. Piper, der Ver­le­ger, war vor kur­zem 2 Tage bei uns. Wir such­ten 64 Blät­ter für das Tafel­werk aus, das noch im Herbst d[ieses] J[ahres] erschei­nen soll. Ganz ein­fach ist das Gan­ze nicht – kei­ne Ver­fall­stim­mun­gen u[nd] nichts Zeit­kri­ti­sches, aber es scheint mir eine eigen­ar­ti­ge Col­lek­ti­on – nichts (bis auf ein paar Arbei­ten, die in staatl[ichem] Besitz sich befin­den) ver­öf­fent­licht. Ich gebe dem Ban­de den Titel Aben­teu­er einer Zei­chen­fe­der‘.“5

Der Psy­cho­lo­ge Wolf­gang Mül­ler-Thal­heim ana­ly­sier­te unter ande­rem auch Kubins pro­phe­ti­sche Zeich­nun­gen: Man hat Kubin wegen sei­ner visio­nä­ren Gra­phik, aber mehr noch wegen der 1908 auf­ge­zeich­ne­ten Gescheh­nis­se in Die ande­re Sei­te‘ einen Pro­phe­ten genannt. Ein Teil die­ser sei­ner­zeit unvor­stell­ba­ren Schre­ckens­bil­der wur­den im letz­ten Krieg bereits wahr, so daß mit Ban­gen der Ver­wirk­li­chung wei­te­rer Vor­aus­sa­gen‘, etwa der den Unter­gang ein­lei­ten­den sexu­el­len Über­flu­tung bei gleich­zei­tig ver­lo­ren­ge­hen­dem ero­ti­schen Emp­fin­den, ent­ge­gen­ge­se­hen wer­den kann.“6


Kubin ist Sym­bo­list. Er drückt sich in gleich­nis­haf­ten Bil­dern aus. Dem­nach stellt der Künst­ler den Sach­ver­halt nicht direkt dar, son­dern über­trägt ihn in Sinn­bil­der. Dunk­le Wol­ken brau­en sich am Him­mel der Ora­kel­zeich­nung zusam­men. Eine bedroh­li­che Ruhe liegt über der Sze­ne­rie in der Schlucht. Wir als Betrach­ter kön­nen nicht hin­ter die Fels­wand bli­cken und erfah­ren daher nicht, woher der Mann gelau­fen kommt. 

Wolf­gang Mül­ler-Thal­heim stellt gegen Ende sei­nes Essays die Fra­ge: Fühl­te er [Kubin] sich als Mah­ner, als Vor­kämp­fer? Nach all dem, was wir über ihn wis­sen, nein. Er woll­te nur regis­trie­ren, nur Seher sein. Die visio­nä­re Schau war ihm gege­ben und damit auch die Gabe, vie­les pro­phe­tisch auf­zu­zeich­nen, aber er tat es still und ohne Auf­se­hen. Wer sehen kann, der sehe!“7

Die direk­te Fra­ge an die Sibyl­le könn­te lau­ten: Wie lan­ge dau­ert der Krieg noch an?“ Der Künst­ler konn­te das Ende des Krie­ges im Jahr 1941 noch nicht erah­nen. Hät­te man Kubin gefragt, wür­de er viel­leicht geant­wor­tet haben: Da es nichts Ange­neh­mes zu mel­den gibt – schweigt man lie­ber gänz­lich.“8

Bio­gra­fie

1877:

am 10. April in Leit­me­ritz in Böh­men geboren

1879 – 1882:

Kind­heit in Salzburg

1882:

Über­sied­lung der Fami­lie nach Zell am See

1887:

Tod der Mut­ter am 8. Mai

1887 – 1888:

Besuch des Gym­na­si­ums in Salzburg

1888 – 1891:

Gemein­de­schu­le in Zell am See

1891 – 1892:

Kunst­ge­wer­be­schu­le in Salzburg

1892 – 1896:

Lehr­zeit bei dem Foto­gra­fen Beer in Klagenfurt

1896:

im Okto­ber Selbst­mord­ver­such am Grab der Mutter

1897:

von Jän­ner bis April Wehr­dienst, der durch eine schwe­re Ner­ven­krank­heit been­det wird

1898 – 1901:

Besuch der pri­va­ten Kunst­schu­le an der Kunst­aka­de­mie München

1902:

ers­te Aus­stel­lung bei Paul Cas­si­rer in Berlin

1903:

ers­tes Map­pen­werk. Hans von Weber ver­öf­fent­licht in Mün­chen 15 Zeich­nun­gen in Licht­druck­re­pro­duk­tio­nen (Auf­la­ge: 1000 Exem­pla­re sowie wei­te­re 100 Stück als signier­te Vor­zugs­aus­ga­be). Das Lentos Kunst­mu­se­um Linz besitzt eine voll­stän­di­ge Aus­ga­be die­ses bedeu­ten­den Frühwerks

1903:

am 1. Dezem­ber stirbt Kubins Braut Emmy Bay­er; es folgt eine schwe­re see­li­sche Krise

1904:

Ende März Hei­rat mit Hed­wig Gründ­ler, geb. Schmitz

1905:

Rei­se nach Süd­frank­reich und Italien

1906:

ers­ter Auf­ent­halt in Paris. Erwirbt im Juni das Schlöss­chen Zwick­ledt bei Wern­stein am Inn und zieht von Mün­chen dorthin

1907:

Rei­se nach Bos­ni­en und Dal­ma­ti­en. Am 2. Novem­ber ver­stirbt sein Vater

1908:

Rei­se mit Fritz von Herz­ma­novs­ky-Orlan­do nach Ober­ita­li­en. Nie­der­schrift des bedeu­ten­den Romans Die ande­re Sei­te, der 1909 mit 52 Zeich­nun­gen des Künst­lers bei Piper (Mün­chen und Leip­zig) erscheint

1909:

Bal­kan­rei­se mit Karl Wolfs­kehl. Bei­tritt zur Neu­en Künstlervereinigung

1911:

im Herbst Rei­se nach Prag

1912:

wird Mit­glied der Münch­ner Künst­ler­ver­ei­ni­gung Blau­er Reiter

1914:

zwei­te Rei­se nach Paris

1916:

Beschäf­ti­gung mit der Leh­re des Bud­dhis­mus; see­li­sche Krise

1921:

ers­te Ein­zel­aus­stel­lung bei Hans Goltz in München

1924:

ers­ter Auf­ent­halt in der Schweiz

1930:

Mit­glied der Preu­ßi­schen Aka­de­mie der Küns­te in Berlin

1930 – 1940:

zahl­rei­che Som­mer­auf­ent­hal­te im Böhmerwald

1937:

gro­ße Aus­stel­lung in der Wie­ner Alber­ti­na aus Anlass des 60. Geburts­tags. Ernen­nung zum Professor

1947:

Ehren­bür­ger der Stadt Linz

1948:

Tod sei­ner Frau Hed­wig am 15. August

1949:

Mit­glied der Baye­ri­schen Aka­de­mie der Schö­nen Küns­te in München

1951:

Öster­rei­chi­scher Staats­preis für bil­den­de Kunst

1952:

Preis der Bien­na­le in Venedig

1955:

Preis der Bien­na­le in São Paulo

1957:

Gro­ßes Ehren­zei­chen für Kunst und Wissenschaft

1959:

stirbt am 20. August in Zwickledt

Pro­ve­ni­enz

Die Gra­fik wur­de 1954 in den Bestand der Neu­en Gale­rie der Stadt Linz, der Vor­gän­ger­insti­tu­ti­on des Lentos Kunst­mu­se­um Linz, auf­ge­nom­men. Sie stammt aus dem Besitz des Kunst­händ­lers und ers­ten Direk­tors der Neu­en Gale­rie Wolf­gang Gurlitt.

Ver­wen­de­te Literatur

Peter Ass­mann (Hg.), Alfred Kubin (1877 – 1959), mit einem Werk­ver­zeich­nis des Bestan­des im Ober­ös­ter­rei­chi­schen Lan­des­mu­se­um, erscheint zur Aus­stel­lung Alfred Kubin (1877 – 1959) mit Arbei­ten aus dem Bestand des OÖ. Lan­des­mu­se­ums in der OÖ. Lan­des­ga­le­rie vom 2. März bis 9. April 1995 (= Publi­ka­tio­nen des OÖ. Lan­des­mu­se­ums, N. F., 81; Das Kubin-Pro­jekt 1995, 1), Salz­burg, Wien 1995. 

Vol­ker Michels (Hg.), Außer­halb des Tages und des Schwin­dels“. Her­mann Hes­se – Alfred Kubin. Brief­wech­sel 1928 – 1952, Frankfurt/​Main 2008. 

Hans H. Hof­stät­ter, Idea­lis­mus und Sym­bo­lis­mus (= Auf­bruch der Druck­gra­phik von der Roman­tik bis zur Gegen­wart II, hg. v. Wal­ter Koschatz­ky), Wien, Mün­chen 1972. 

Her­bert Hun­ger, Lexi­kon der grie­chi­schen und römi­schen Mytho­lo­gie, 8., erw. Aufl., Wien 1988. 

Wolf­gang K. Mül­ler-Thal­heim, Ero­tik und Dämo­nie im Werk des Alfred Kubin. Alfred Kubin. Aus mei­nem Leben, Wies­ba­den 1970. 

Alfred Kubin, Aus mei­nem Leben, mit 73 Zeich­nun­gen, Mün­chen 1977.

  1. Unveröffentlichte Grußkarte Alfred Kubins an Wolfgang Gurlitt vom 10. Jänner 1945, im Besitz des Lentos Kunstmuseum Linz.
  2. Wolfgang K. Müller-Thalheim, Erotik und Dämonie im Werk des Alfred Kubin. Alfred Kubin. Aus meinem Leben, Wiesbaden 1970, hier: Aus meinem Leben, November 1946, S. 102
  3. Herbert Hunger, Lexikon der griechischen und römischen Mythologie, 8., erw. Aufl., Wien 1988, S. 475.
  4. „Gedanken zum 60. Geburtstag“, 1937, in: Alfred Kubin, Aus meinem Leben, mit 73 Zeichnungen, München 1977, S. 102.
  5. Alfred Kubin an Hermann Hesse, Brief vom 10. März 1941, in: Volker Michels (Hg.), „Außerhalb des Tages und des Schwindels“. Hermann Hesse – Alfred Kubin. Briefwechsel 1928–1952, Frankfurt/Main 2008, S. 250.
  6. ebd., S. 43.
  7. Wolfgang K. Müller-Thalheim, „Erotik und Dämonie im Werk Alfred Kubins. Eine psychopathologische Studie“, in: Müller-Thalheim 1970, S. 7–58, hier S. 55.
  8. Vgl. obige Grußkarte mit dem Text Alfred Kubins.

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