Zum Hauptinhalt springen
Dietmar Brehm, Totentanz II , 1970

Koh­le und Tusche auf brau­nem Papier, Inv. Nr. G 2230

Die vor­lie­gen­de Zeich­nung stammt aus dem vier­tei­li­gen Zyklus Toten­tanz. Der Dan­se macab­re beun­ru­hig­te bereits den mit­tel­al­ter­li­chen Men­schen im 14. Jahr­hun­dert zutiefst. Eine beson­ders kon­trast­rei­che Aus­for­mung die­ses Gen­res zeigt sich in der Sequenz, in der der Tod ein blut­jun­ges, mit­ten im Leben ste­hen­des Mäd­chen ent­seelt – so auch in unse­rem Bild. Die schö­ne Frau denkt nicht im Gerings­ten an ihre irdi­sche Ver­gäng­lich­keit. Der Tod nähert sich ihr völ­lig unbe­merkt von hin­ten. Wäh­rend sie ihn nicht sieht, zeigt er den Bild­be­trach­tern bereits sein wah­res Gesicht. Augen und Mund bestehen aus nacht­schwar­zen Ver­tie­fun­gen; unter sei­nem dün­nen Gewand zeich­net sich sein Kno­chen­ge­rüst deut­lich ab. Er fasst das nack­te Mäd­chen am Kopf und drückt es zu Boden. Erschro­cken fällt dem zar­ten Geschöpf die Pup­pe aus der Hand, die ihrer­seits kopf­über zu Boden stürzt. Die Pup­pe als das Meta­the­ma des Bil­des: Die an ihr erkenn­ba­re Leb­lo­sig­keit wird die Schö­ne bald eben­so ereilen.

Die Zeich­nung wur­de mit raschen, kräf­ti­gen Stri­chen in Koh­le und Tusche aus­ge­führt. Diet­mar Brehm kom­po­nier­te das Motiv als Figu­ra ser­pen­ti­na­ta, eine in sich gedreh­te mensch­li­che Dar­stel­lung, bestehend aus den mit­ein­an­der ver­schmol­ze­nen Lei­bern des Todes, der jun­gen Frau und der Pup­pe. Die abfal­len­de Dia­go­na­le – links oben begin­nend, nach rechts unten ver­lau­fend – unter­streicht den schlech­ten Aus­gang der Geschich­te. Schon in der ita­lie­ni­schen Male­rei des 15. und 16. Jahr­hun­derts kam das soge­nann­te Decre­scen­do, die abfal­len­de dia­go­na­le Kom­po­si­ti­ons­li­nie, bei Dar­stel­lun­gen der Grab­le­gung Chris­ti zum Einsatz.

Moti­visch gese­hen wähl­te Brehm für sei­ne Zeich­nung den frucht­ba­ren Augen­blick“ die­ser unheil­vol­len Hand­lung aus. Es ist jener Moment, mit dem sich die Geschich­te am prä­gnan­tes­ten dar­stel­len lässt, und somit jener zeit­li­che Punkt, an dem Ver­gan­gen­heit und Zukunft zusam­men­lau­fen und der aus­schlag­ge­bend für die Erzäh­lung ist: die tod­brin­gen­de Berüh­rung des Knochenmannes.


Das Blatt setzt sich mit einem bipo­la­ren Prin­zip aus­ein­an­der, näm­lich jenem des Gebä­rens und Ver­ge­hens. Die Figu­ren­grup­pe wirkt – ober­fläch­lich gese­hen – wie eine fami­liä­re Kon­stel­la­ti­on aus Vater, Mut­ter und Kind. Bei nähe­rer Betrach­tung sticht die Dras­tik der Dar­stel­lung deut­lich ins Auge. Der Tod kopu­liert mit der jun­gen Frau. Das männ­li­che und das weib­li­che Prin­zip ver­ei­ni­gen sich, dar­aus ent­steht aber nicht neu­es Leben, son­dern Zer­stö­rung, Ver­nich­tung, Aus­lö­schung, Her­aus­nah­me aus dem dyna­mi­schen Fluss des blü­hen­den Lebens.


Die Kom­bi­na­ti­on von Eros und Tod ist ein The­ma, das die Wie­ner Künst­ler­sze­ne um 1900 beson­ders fas­zi­nier­te, nament­lich Gus­tav Klimt, Egon Schie­le und Oskar Kokosch­ka. Es zieht sich auch quer durch das meh­re­re Jahr­zehn­te umfas­sen­de Gesamt­werk des Lin­zers Diet­mar Brehm. Peter Kraml for­mu­liert tref­fend: Ohne die Begier­de, die ero­ti­sche Bezie­hung zum Tod, ohne die­sen Zwi­schen­be­reich von Eros und Tod aus­zu­lo­ten, im Spie­gel­bild der Dar­stel­lung, ist die Kunst von Diet­mar Brehm nicht zu ver­ste­hen. In die­sem Sinn wer­den von ihm auch die Zei­chen der Begier­de gesetzt.“1


Der Künst­ler erar­bei­te­te die Serie Toten­tanz wäh­rend sei­ner Stu­di­en­zeit an der Lin­zer Kunst­schu­le. Der Zyklus ent­stand unter dem Ein­fluss des Spät­ex­pres­sio­nis­mus, denn gera­de in Ober­ös­ter­reich war in den spä­ten 1960er-Jah­ren die Bild­tra­di­ti­on um den Zeich­ner Alfred Kubin noch sehr leben­dig. Die mor­bi­den Moti­ve und das illus­tra­ti­ve Arbei­ten des Inn­viert­ler Zeich­ners waren gewiss auch für Diet­mar Brehm sehr prägend.


Was in der vor­lie­gen­den Gra­fik bereits als Vor­läu­fer einer indi­vi­du­el­len Mytho­lo­gie der Zei­chen­kür­zel zu erken­nen ist, ist die scho­nungs­lo­se Dras­tik, die Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Schmerz, mit exis­ten­zi­el­len The­men des Lebens. Die­ser The­men­kom­plex wird Brehm auch spä­ter inten­siv befas­sen: Mythen der Zivi­li­sa­ti­on, der Selbst­er­for­schung und der Exis­tenz­fra­gen“2 erkennt auch Peter Baum als den zen­tra­len inhalt­li­chen Schwer­punkt in der Arbeit des Künst­lers. Die Dar­stel­lung des Todes mutiert dar­in immer mehr zu einer Gegen­licht­auf­nah­me“ des ange­zeig­ten Gegen­stan­des.3 In Brehms Œuvre gibt es Selbst­por­träts, die immer eine Form der Wider­spie­ge­lung sind“.4 Der Künst­ler war blut­jung, als er für die­se Serie den Tod vari­an­ten­reich auf die pla­ne Flä­che des Papiers mal­te – so, als ob er ihn dadurch aus dem ech­ten Leben ver­ban­nen könne.

Der Tod als repro­du­zier­te Rea­li­tät: In Ver­bin­dung mit Brehms Video­kunst berich­tet Hans Schif­fer­le, dass den Künst­ler die repro­du­zier­te Rea­li­tät angeb­lich immer schon mehr inter­es­siert hät­te als die Wirk­lich­keit.5 Das Motiv des Todes wur­de in Brehms Œuvre in wei­te­rer Kon­se­quenz zu einer geläu­fi­gen Iko­ne sei­nes Bild­al­pha­bets. Wer fürch­tet sich also noch vor dem schwar­zen Mann?

Pro­ve­ni­enz

Die Zeich­nung wur­de 1971 aus dem Besitz des Künst­lers erworben.

Bio­gra­fie

1947:

gebo­ren in Linz

1967 – 1972:

Stu­di­um der Male­rei an der Kunst­schu­le Linz bei Prof. Her­bert Dimmel

1965:

Beginn der male­ri­schen und zeich­ne­ri­schen Arbeit

1986:

Ein­zel­aus­stel­lung in der Neu­en Gale­rie der Stadt Linz

1974:

ers­te fil­mi­sche Arbei­ten entstehen

1974:

Talent­för­de­rungs­preis des Lan­des Oberösterreich

1976:

ers­te Fotoarbeiten

seit 1977:

mehr als 900 Film­vor­füh­run­gen im In- und Aus­land: u. a. Neue Gale­rie der Stadt Linz, OÖ. Lan­des­mu­se­um Linz, Öster­rei­chi­sches Film­mu­se­um Wien, Muse­um des 20. Jahr­hun­derts Wien, Öster­rei­chi­sche Film­ta­ge Wels, Vien­na­len Wien, Dia­go­na­len Salz­burg und Graz, Deut­sches Film­mu­se­um Frank­furt am Main, Arse­nal Ber­lin, Cent­re G. Pom­pi­dou Paris, The Muse­um of Modern Art New York, Cine­ma­the­que San Fran­cis­co, Film­fo­rum Los Ange­les, Film­mu­se­en Brüs­sel und Ant­wer­pen; Tri­bu­te D. B.“ Dia­go­na­le Graz, in zahl­rei­chen Pro­gram­men und auf Fes­ti­vals in Euro­pa, Ame­ri­ka, Aus­tra­li­en, Afri­ka und Japan

1988:

Adolf-Schärf-Fonds-Z-Preis und Ein­zel­aus­stel­lung in der OÖ. Landesgalerie

1990:

OÖ. Lan­des­kul­tur­preis für expe­ri­men­tel­len Film

1993:

BMUK-Wür­di­gungs­preis für Film­kunst und Aus­stel­lung in der OÖ. Landesgalerie

1996:

Award for best Sur­rea­lism – Hum­boldt Inter­na­tio­nal Film / Video Fes­ti­val in Arca­ta, US

1997:

Aus­stel­lung im Stadt­mu­se­um Wetzlar

2002/03:

Ein­zel­aus­stel­lung im Künst­ler­haus Wien

2003:

Paul Pierre Stan­di­fer Award for Cine­ma­to­gra­phy – Cine­ma­te­xas Inter­na­tio­nal Short Film Fes­ti­val in Aus­tin, US

2005:

Ein­zel­aus­stel­lung im Muse­um Moder­ner Kunst Pas­sau – Stif­tung Wörlen

seit 2006:

Ent­ste­hung von über 52 Video­ar­bei­ten. Diet­mar Brehms Fil­me waren bis­her auf ORF, 3sat, dem Kunst­ka­naal Ams­ter­dam, Arte und wei­te­ren euro­päi­schen Fern­seh­sen­dern zu sehen

2009:

Aus­stel­lung im Stadt­mu­se­um NORDICO und Aus­stel­lungs­be­tei­li­gung an Linz Blick – Stadt­bil­der in der Kunst 1909 – 2009 im Lentos Kunst­mu­se­um Linz
Diet­mar Brehm ist Maler, Fil­me­ma­cher und war bis 2012 Hoch­schul­leh­rer an der Kunst­uni­ver­si­tät Linz. Er ist Mit­glied der Aus­tria Film­ma­kers Coope­ra­ti­ve Wien, des Künst­ler­hau­ses Wien, der Gra­zer Autoren­ver­samm­lung, der Künst­ler­ver­ei­ni­gung MAERZ Linz und des Kunst­ver­eins Para­dig­ma Linz.

Lite­ra­tur

Diet­mar Brehm. Arbei­ten auf Papier, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, Neue Gale­rie der Stadt Linz (= Öster­rei­chi­sche Kunst der Gegen­wart IV), Linz 1986.

Diet­mar Brehm. Male­rei, Zeich­nun­gen, exp. Fil­me, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, OÖ. Lan­des­mu­se­um (= Kata­lo­ge des OÖ. Lan­des­mu­se­ums, Neue Fol­ge, Nr. 15), Linz 1988.

Diet­mar Brehm. Blick­lust, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, OÖ. Lan­des­mu­se­um (= Kata­lo­ge des OÖ. Lan­des­mu­se­ums, Neue Fol­ge, Nr. 60), Linz 1993.

Aus­tri­an Avant-Gar­de Cine­ma 1955 – 1993, hg. v. Ste­ve Anker, Cine­ma­te­que San Fran­cis­co, Six­pack­film Wien, Wien 1994.

Alex­an­der Hor­wath (Hg.), Avant­gar­de­film. Öster­reich 1950 bis heu­te, Wien 1995.

Gott­fried Schlem­mer (Hg.), Diet­mar Brehm. Per­fekt, Wien 2000.

Diet­mar Brehm. Job: Male­rei, Arbei­ten auf Papier, Foto­gra­fie, Film, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, Künst­ler­haus Wien, Wien 2002.

Diet­mar Brehm. Par­ty, hg. v. Österr. Film­mu­se­um, Wien 2003.

Diet­mar Brehm, Blu­terre­ger. 237 Zeich­nun­gen zu Rock- und Pop­mu­sic 1998 – 2003, Pri­va­tedi­ti­on, Bd. 1, Linz 2004.

Hans Peter Wipp­lin­ger (Hg.), Diet­mar Brehm. Blick­zwang, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, Muse­um Moder­ner Kunst Pas­sau, Pas­sau 2005.

Kunst­raum Gale­rie Schloss Mond­see (Hg.), Ingrid Kowa­rik / Diet­mar Brehm: Echo-Echo mCol­la­bo­ra­ti­ons. Salz­burg 2007.

Diet­mar Brehm (Hg.), Sekun­den­fal­le 1980 – 2008. Pri­va­tedi­ti­on, Bde. 2. Linz 2008.

NORDICO Stadt­mu­se­um (Hg.), Diet­mar Brehm. Film + Video 1974 – 2009, Male­rei 2004 – 2009. Linz 2009.

Kunst­uni­ver­si­tät Linz (Hg.), Diet­mar Brehm. Film + Video 1974 – 2012, Arbei­ten auf Papier 1969 – 2012, Foto­gra­fie 1980 – 2004, Male­rei 1987 – 2012. Linz 2012. 

  1. Peter Kraml, „Die Kunst ein Torso“, in: Dietmar Brehm. Malerei, Zeichnungen, Exp. Filme, Ausstellungskatalog, OÖ. Landesmuseum (= Kataloge des OÖ. Landesmuseums, Neue Folge, Nr. 15), Linz 1988, S. 7 – 33, hier S. 18.
  2. Peter Baum, in: Dietmar Brehm. Arbeiten auf Papier + Exp. Filme, Ausstellungskatalog, Neue Galerie der Stadt Linz (= Österreichische Kunst der Gegenwart IV), Linz 1986, S. 7.
  3. Vgl. Kraml 1988, S. 18.
  4. Ebd.
  5. Vgl. Hans Schifferle, „Menschen aus zweiter Hand. Mysteriös und unberechenbar: Dietmar Brehms Underground-Kino“, in: Dietmar Brehm. Job: Malerei, Arbeiten auf Papier, Fotografie, Film, Ausstellungskatalog, Künstlerhaus Wien, Wien 2002, S. 207–210, hier S. 207.

Newsletter

Premium Corporate Partner
Corporate Partner
Ausgezeichnet mit dem Österreichischen Umweltzeichen für Museen
Museen der Stadt Linz

Diese Website verwendet Cookies um das Nutzererlebnis zu verbessern. Mehr dazu