Zum Hauptinhalt springen
Edgar Jené, Ohne Titel , 1938

Gou­ache auf Büt­ten­pa­pier, 50,5×35cm

Edgar Jené gilt als eine der Grün­dungs­per­sön­lich­kei­ten der Wie­ner Schu­le des Fan­tas­ti­schen Rea­lis­mus, deren Haupt­ver­tre­ter Arik Brau­er, Ernst Fuchs, Rudolf Haus­ner, Wolf­gang Hut­ter und Anton Lehm­den sind. 1948 orga­ni­sier­te der Saar­brü­cker Maler Jené gemein­sam mit Paul Celan und Arnulf Neu­wirth die ers­te Sur­rea­lis­mus-Aus­stel­lung in Wien. Jené ging 1950 nach Paris, um dort einen Haupt­ver­tre­ter des Sur­rea­lis­mus ken­nen­zu­ler­nen – André Bre­ton. 1938, im Jahr der Ent­ste­hung die­ser Gou­ache, leb­te Jené in Wien und hei­ra­te­te zum zwei­ten Mal. Der Künst­ler hat­te sich bereits eine gedie­ge­ne Aus­bil­dung zum Maler und Gra­fi­ker erworben. 

Schon neun Jah­re zuvor begann Jené, sich mit dem Gedan­ken­gut der Sur­rea­lis­ten und des Psy­cho­ana­ly­ti­kers Freud aus­ein­an­der­zu­set­zen. Ziel des Sur­rea­lis­mus war die Wie­der­her­stel­lung der ursprüng­li­chen Ganz­heit des Men­schen durch die Befrei­ung des Geis­tes aus inne­ren und äuße­ren Zwän­gen. Impul­se hier­für kamen von der eng­li­schen und deut­schen Roman­tik, dem Sym­bo­lis­mus und dem Dada­is­mus sowie von den Theo­rien des Unbe­wuss­ten“ der Psy­cho­ana­ly­ti­ker Sig­mund Freud und C. G. Jung. Zugang zur Welt des Halb‑, Vor- und Unbe­wuss­ten, zur Wahr­heit von Traum, Wahn­sinn, Hal­lu­zi­na­ti­on, zum Irra­tio­na­len und Absur­den such­te man im sys­te­ma­ti­schen Selbst­ex­pe­ri­ment, das Ein­bli­cke in die wirk­li­che“ Funk­ti­ons­wei­se des Den­kens (unter Aus­schal­tung jeder ver­nunft­mä­ßi­gen Kon­trol­le sowie von ästhe­ti­schen und mora­li­schen Beden­ken) gewäh­ren soll­te.1 Kon­tur­li­ni­en cha­rak­te­ri­sie­ren in der vor­lie­gen­den Gou­ache­zeich­nung pri­mär die männ­li­che Figur, die sich sonst kaum vom gleich­far­bi­gen Hin­ter­grund abzu­he­ben vermag. 


Fle­cken und Farb­spu­ren des Hin­ter­grun­des wer­den auch inner­halb der Kon­tur­li­ni­en der Figur wahr­nehm­bar. Das Gesicht wird nur durch ein spar­sam ange­deu­te­tes Auge cha­rak­te­ri­siert. Die Arme des Man­nes sind eng an den Kör­per gelegt. Er scheint eher zu lie­gen als zu ste­hen, obwohl er senk­recht im Bild auf­ragt. Durch eine leich­te Kör­per­nei­gung drückt die Hal­tung des Man­nes Fra­gi­li­tät und eine Labi­li­tät des Stan­des aus. Blass und wäch­sern wie eine Mumie wirkt die Figur. Etwa in Herz­nä­he ragt eine schmet­ter­lings­ähn­li­che Form schräg empor. Sie scheint sich vor den Mann zu schie­ben: Wird sie ihn ver­de­cken oder ihn viel­leicht mit sich nach oben zie­hen? Die unbe­ti­tel­te Zeich­nung wur­de alla pri­ma auf Büt­ten­pa­pier auf­ge­bracht, das heißt, das Papier wur­de vor­her nicht grun­diert. Jené ver­wen­de­te für sei­ne Dar­stel­lung eines männ­li­chen Aktes hand­ge­schöpf­tes Papier, das nor­ma­ler­wei­se für Druck­gra­fi­ken ein­ge­setzt wird und eine star­ke Tex­tur auf­weist. Die Reduk­ti­on der Figur auf Kon­tur­li­ni­en und spar­sa­me far­bi­ge Akzen­te (nur da und dort kann man etwas Gelb und Rot, Blau und Braungrau ent­de­cken) lässt vie­les offen.


Etwas Traum­haf­tes und selt­sam Ver­geis­tig­tes liegt in der Dar­stel­lung. Was bedeu­tet nur das schmet­ter­lings­ar­ti­ge Gebil­de? Ist es die See­le des ent­mensch­lich­ten Wesens? Könn­te es etwas sein, das man nur in Träu­men sehen kann? Die oben erwähn­te 1948 orga­ni­sier­te ers­te Sur­rea­lis­ten-Aus­stel­lung fand in der Wie­ner Gale­rie Rochowan­sky statt. Auch der befreun­de­te Dich­ter Paul Celan war an der Eröff­nung betei­ligt. Jené berich­tet: Celan half uns eif­rig, schrieb für das Falt­blatt der Ein­la­dung Eine Lan­ze für den Sur­rea­lis­mus‘ und steu­er­te sogar ein von ihm signier­tes Werk‘ bei. Es bestand in einem losen schwar­zen Vor­hang, dar­un­ter ein lee­rer Rah­men. Er war ein wenig stolz auf sei­nen Ein­fall: das Nichts hin­ter dem dunk­len Vor­hang, den auf­zu­he­ben die Erwar­tung stets bereit ist.“2 Am Eröff­nungs­abend las man Gedich­te von André Bre­ton und ande­ren sur­rea­lis­ti­schen Dich­tern. Jené: Zum Abschluß las Celan die sei­nen. Es war ein Erfolg der Neu­gier­de. Dar­über hin­aus konn­ten die Wie­ner mit der Aus­stel­lung nichts anfan­gen, nann­ten sie das Gru­sel­ka­bi­nett‘. Schließ­lich hat­ten sie in der äußerst labi­len Nach­kriegs­at­mo­sphä­re ande­re Sor­gen als die um avant­gar­dis­ti­sche Kunst. Die Zahl der Inter­es­sier­ten, die sich mit dem Gebo­te­nen ernst­haft aus­ein­an­der­setz­ten, blieb gering.“3

Wie­ner Schu­le des Phan­tas­ti­schen Realismus

Der Begriff der Wie­ner Schu­le des Phan­tas­ti­schen Rea­lis­mus stammt vom Kri­ti­ker Johann Muschik, zuvor hat­te man meist von den Wie­ner Sur­rea­lis­ten gespro­chen. Jenés Rol­le inner­halb die­ser Grup­pe war es, hier als Anwalt der Ideen Bre­tons“4 zu wir­ken. Albert Paris Güters­loh wirk­te als Leh­rer von Arik Brau­er, Ernst Fuchs, Wolf­gang Hut­ter und Anton Lehm­den an der Wie­ner Aka­de­mie. Als Prä­si­dent des Wie­ner Art Clubs sorg­te er für Aus­stel­lungs­mög­lich­kei­ten sei­ner Zöglinge.

Kenn­zeich­nend für die Wie­ner Schu­le des Phan­tas­ti­schen Rea­lis­mus ist es – bei einer Beherr­schung der alt­meis­ter­li­chen Mal­tech­nik –, Unbe­wuss­tes, Irra­tio­na­les in das Kunst­werk ein­flie­ßen zu las­sen und Sig­mund Freuds The­ra­pie­ge­dan­ken sei­ner Psy­cho­ana­ly­se über die von Dali pro­pa­gier­te para­no­isch-kri­ti­sche Metho­de‘ tri­um­phie­ren zu las­sen“5. Paul Celan ging in der Fol­ge nach Paris. Und auch Edgar Jené ver­ließ Wien zwei Jah­re nach der legen­dä­ren Aus­stel­lung. Die Male­rei […] ist an kei­ne Sprach­gren­ze gebun­den. Infol­ge­des­sen war für mich der Orts­wech­sel pro­blem­lo­ser als für ihn“3, kom­men­tier­te Jené sei­ne und Cel­ans Über­sied­lung nach Paris. Mit Der Traum vom Trau­me schrieb Paul Celan 1948 einen Text zu Edgar Jenés Male­rei. Eine dar­aus stam­men­de Pas­sa­ge zu Jenés Gemäl­de Der Sohn des Nord­lichts sei im Fol­gen­den kurz zitiert: Das Nord­licht aber hat jetzt einen Sohn, und Edgar Jené war der ers­te, der ihn sah. […] Daß er [der Sohn] es ist, auf den gewar­tet wird, erkennt man in sei­nen Augen: sie haben gese­hen, was alle gese­hen haben und mehr.“6


7Jenés Gra­fik weckt Asso­zia­tio­nen. Sie stellt nicht alles expli­zit dar, was man dar­in sehen kann. Bereits 1935 muss­te Jené auf­grund der poli­ti­schen Ent­wick­lung in Deutsch­land nach Öster­reich flüch­ten. Als Maler und Zeich­ner setz­te er sich mit dem Zeit­ge­sche­hen künst­le­risch aus­ein­an­der. Sei­ne unbe­ti­tel­te Gou­ache­zeich­nung lässt etwas von dem bevor­ste­hen­den Leid, her­vor­ge­ru­fen durch den Zwei­ten Welt­krieg, erah­nen. Der mit Jené befreun­de­te Phi­lo­soph und Phi­lo­lo­ge Jules Vuillemin drück­te das Numi­no­se, ratio­nal nicht Erklär­ba­re des Schaf­fens­pro­zes­ses in fol­gen­den Wor­ten aus: Bei Jené ist […] der Weg der Skiz­ze über den Ent­wurf zur Voll­endung nicht eine Rei­he von Fort­schrit­ten in der Genau­ig­keit der Dar­stel­lung. Er führt vom lite­ra­ri­schen Ein­fall zum Ein­grei­fen des Ein­falls durch den Traum. Genau­so muss der Dich­ter einen ihn frap­pie­ren­den Sin­nes­aus­druck zuerst ver­ges­sen, um sei­ne Bedeu­tung ohne Hast in den Tie­fen der nächt­li­chen Visi­on wie­der­zu­fin­den. Die zwei­te, end­gül­ti­ge ist ein der dunk­len Klar­heit vor der Spra­che und vor der Über­le­gung wie­der­ge­ge­be­ner Text.“8


Unse­re Dar­stel­lung ist ein zu Papier gebrach­tes Traum­seg­ment. Sie spart das Grau­en zwar visu­ell aus, aber die Asso­zia­tio­nen und Ahnun­gen, die sich den­noch ein­stel­len, sind trotz all der gebo­te­nen Poe­sie nicht min­der beunruhigend.

Gou­ache

(von ita­lie­nisch guaz­zo = Lache“) ist ein was­ser­lös­li­ches Farb­mit­tel. Sie besteht aus grö­ber ver­mah­le­nen Pig­men­ten unter Zusatz von Krei­de. Als Bin­de­mit­tel wird Gum­mi ara­bicum ver­wen­det. Sie kann sowohl für decken­de als auch für lasie­ren­de Mal­tech­ni­ken ver­wen­det wer­den. Damit ver­eint sie die Vor­zü­ge der Aqua­rell­far­be (lasie­rend) und die der Ölfar­be (pas­tos). Die Gou­ache kann in dün­nen oder dicke­ren Schich­ten ver­malt wer­den und auch alla pri­ma (ohne Unter­ma­lung oder Lasur). Wei­ße Bild­tei­le kön­nen durch­aus deckend gestal­tet wer­den und müs­sen nicht wie bei der Aqua­rell­ma­le­rei aus­ge­spart wer­den. […] Bedeu­ten­de Ver­tre­ter der moder­ne­ren Gou­ache-Male­rei sind Hen­ri Matis­se, Marc Chagall, Paul Wun­der­lich oder Otto Mül­ler.“9

Bio­gra­fie

1904:

gebo­ren am 4. März in Saarbrücken

1922 – 1924:

Stu­di­um an der Aka­de­mie der Bil­den­den Küns­te in München

1924 – 1925:

Fort­set­zung des Stu­di­ums an der Éco­le natio­na­le des Beaux-Arts in Paris, an der Aca­dé­mie Juli­an und an der Aca­dé­mie de la Gran­de Chau­miè­re in Paris

1928 und 1929:

Aus­stel­lun­gen im Pari­ser Salon des Indépendants

1928:

Rück­kehr nach Saarbrücken

1930:

Auf­ent­halt in Rom

1935:

Emi­gra­ti­on auf­grund der poli­ti­schen Ent­wick­lung nach Wien

1936 und 1937:

Aus­stel­lun­gen im Wie­ner Hagen­bund 1938: Hei­rat mit der Kin­der­buch­au­torin Eri­ca Lillegg

1949:

Aus­stel­lung im Wie­ner Art Club

1950:

Rück­kehr nach Paris. Enge Kon­tak­te zu den Sur­rea­lis­ten. Orga­ni­sa­ti­on meh­re­rer Ausstellungen

1951:

Aus­stel­lung im Saar­land­mu­se­um, Saarbrücken

1954 – 1960:

meh­re­re Aus­stel­lun­gen in der Gale­rie Furs­ten­berg, Paris

1964:

Aus­stel­lung im Saar­land­mu­se­um, Saarbrücken

1965:

Über­sied­lung nach Demeu­lai­ne in La Cha­pel­le St. André (Bur­gund), wo er bis zu sei­nem Tode lebt

1974:

Aus­stel­lung im Saar­land­mu­se­um, Saarbrücken

1984:

stirbt am 15. Juni in sei­ner Wahl­hei­mat La Cha­pel­le St. André

Pro­ve­ni­enz

Die Gou­ache­zeich­nung wur­de im Jahr 2000 in einer Gra­zer Gale­rie erworben.


Ver­wen­de­te Literatur

Wie­land Schmied (Hg.), Geschich­te der bil­den­den Kunst in Öster­reich, Bd. VI: 20. Jahr­hun­dert, Mün­chen 2002. 

Georg‑W. Költzsch, Schön ist nur das Wun­der­ba­re. Leben, Wer­ke, Begeg­nun­gen des Malers Edgar Jené, hg. v. der Moder­nen Gale­rie des Saar­land-Muse­ums in der Stif­tung Saar­län­di­scher Kul­tur­be­sitz, Saar­brü­cken 1984.

  1. Der Brockhaus. Kunst, 2., völlig neu bearb. Aufl., hg. v. d. Lexikonredaktion des Verlags F. A. Brockhaus, Mannheim, Leipzig 2001, S. 1121f.
  2. Jené Edgar, „Begegnungen“, 1980, in: Georg-W. Költzsch, Schön ist nur das Wunderbare. Leben Werke, Begegnungen des Malers Edgar Jené, Saarbrücken 1984, S. 70–86, hier S. 78.
  3. Ebd., S. 80.
  4. Wieland Schmied, „Malerei nach 1945“, in: ders. (Hg.), Geschichte der bildenden Kunst in Österreich, Bd. VI: 20. Jahrhundert, München 2002, S. 37–160, hier S. 120.
  5. Ebd., S. 120ff.
  6. Paul Celan, „Zu drei Bildern Jenés“, 1948, in: Költzsch 1984, S. 96–100, hier S. 98.
  7. Jules Vuillemin, „Edgar Jené. Maler des Vergessens“, 1955, in: Költzsch 1984, S. 102–106, hier S. 102ff.
  8. http://de.wikipedia.org/wiki/Gouache

Diese Website verwendet Cookies um das Nutzererlebnis zu verbessern. Mehr dazu