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Erika Giovanna Klien, Turm in Seewalchen am Attersee , 1922

Blei­stift, Krei­de auf Papier, 30, 2 x 20,7 cm

[…] Ich gehe an Kir­chen vorbei

Die Kir­chen flie­ßen hoch auf
Die Wän­de sind lei­se gelb­ro­sa über­haucht
grau ist in allem
Wo ist der Meis­ter
Mein Meis­ter
Du in der Son­nen­hö­he […]“1


Als Eri­ka Gio­van­na Kli­en das Blatt Turm in See­wal­chen am Atter­see zeich­net, ist sie zwei­und­zwan­zig Jah­re alt. Ihre Aus­bil­dung in der Abtei­lung für orna­men­ta­le For­men­leh­re bei Franz Cizek an der Wie­ner Kunst­ge­wer­be­schu­le hat sie zu die­sem Zeit­punkt bereits abge­schlos­sen.

Cizeks Lehr­plan sah ein Drei-Stu­fen-Modell der Kunst­ent­wick­lung vor. Wäh­rend es im ers­ten Schritt, der expres­sio­nis­ti­schen Pha­se, um eine Beob­ach­tung psy­cho­phy­si­scher Pro­zes­se“2 und somit um eine Aus­ein­an­der­set­zung mit den eige­nen Gefüh­len ging, lag der Schwer­punkt der zwei­ten, kubis­ti­schen Pha­se auf der Raum­ana­ly­se. Alles führ­te letzt­end­lich zur futu­ris­ti­schen Pha­se, jener des Kine­tis­mus. In die­ser drit­ten und fina­len Pha­se wur­den Bewe­gung, Raum und Zeit zu einer Ein­heit verschmolzen.

Der zeit­ge­nös­si­sche Schrift­stel­ler und Kunst­ver­mitt­ler Leo­pold W. Rochowan­sky fand für Cizeks Arbeits­me­tho­den fol­gen­de Wor­te: Der Unter­richt (o altes Wort!) beginnt mit der Auf­for­de­rung, sich hem­mungs­los, mit der zügel­lo­sen Wild­heit vor­han­de­ner Ener­gien zu geben. Es ent­steht: das Cha­os. Aber schon die nächs­te Stun­de ruft: Besin­nung. Und die nächs­te Stei­ge­rung heißt: Ord­nung.“3 Eri­ka Gio­van­na Kli­en galt als eine der bes­ten Schü­le­rin­nen Franz Cizeks.


1922 und 1923 fer­tig­te Kli­en eine Serie von Archi­tek­tur­dar­stel­lun­gen an, wozu neben den Kirch­turm­dar­stel­lun­gen von See­wal­chen am Atter­see auch Zeich­nun­gen aus der süd­li­chen Wie­ner Vor­stadt (Rodaun, Peters­dorf) gehören.

Wenn wir Turm in See­wal­chen am Atter­see betrach­ten, so fällt der unge­wöhn­li­che Blick­win­kel auf. Der Kirch­turm ist sehr nah­sich­tig dar­ge­stellt, aus­ge­hend von einer schrä­gen Unter­sicht. Die For­men wur­den zunächst auf­ge­split­tet, in kris­tal­li­ne Struk­tu­ren über­setzt, mit Licht und Schat­ten model­liert und in die Höhe gestaf­felt ange­ord­net. Nicht ein Turm, son­dern zwei Tür­me schei­nen sich dadurch zu durch­drin­gen, inein­an­der über­zu­ge­hen. Wäh­rend der vor­de­re Turm­helm samt Kreuz in kraft­voll dunk­len Stri­ch­la­gen empor­ragt, wirkt der dahin­ter ange­setz­te höhe­re Turm wie ein mat­tier­ter Schat­ten des vorderen.

Der dra­ma­ti­sche Höhen­zug der Kom­po­si­ti­on wird von einer Kreu­zes­dar­stel­lung bekrönt. Auch die­se weist kei­ne ein­deu­ti­ge Kon­tur­li­nie auf. Alles ist in Schwin­gung, als wür­den sich Betrach­ter oder Turm in Bewe­gung befin­den, als wäre das krei­sen­de Bewe­gungs­bild, das wäh­rend eines Tan­zes ent­stan­den war, durch das schwan­ken­de Gleich­ge­wichts­ge­fühl noch nicht zum Still­stand gekom­men. Ein Spiel mit Bewe­gung und Licht im Raum sowie in der Zeit ergibt sich dar­aus. Ein neu­er Ansatz, der die Flä­chen­pro­jek­ti­on der Zeich­nung nicht nur in die drit­te, son­dern sogar in die vier­te Dimen­si­on zu über­füh­ren beab­sich­tigt. Die sta­ti­sche Archi­tek­tur wird somit zum dyna­mi­schen Schwingungsträger.


Zur Ent­ste­hungs­zeit unse­res Blat­tes befasst sich Kli­en nach einem Auf­tritt der Tän­ze­rin Ani­ta Ber­ber mit figu­ra­len Bewe­gungs­stu­di­en. Die Künst­le­rin zer­glie­dert die Augen, Hän­de und Köp­fe von Tän­ze­rin­nen in kubo-futu­ris­ti­sche For­men. In die­se Zeit fällt auch die Kon­takt­auf­nah­me Franz Cizeks mit Eliza­beth und Isa­do­ra Dun­can. Die gebür­ti­ge Ame­ri­ka­ne­rin Isa­do­ra Dun­can gilt als Weg­be­rei­te­rin des moder­nen sin­fo­ni­schen Aus­drucks­tan­zes. Sie ent­wi­ckel­te ein neu­es Kör­per- und Bewe­gungs­emp­fin­den, das sich am grie­chi­schen Schön­heits­ide­al ori­en­tier­te, und setz­te als Ers­te klas­si­sche Kon­zert­mu­sik tän­ze­risch um. Zusam­men mit ihrer Schwes­ter Eliza­beth grün­de­te Isa­do­ra Dun­can 1904 in Ber­lin-Gru­ne­wald eine Inter­nats­tanz­schu­le, in der Kin­der kos­ten­los aus­ge­bil­det wur­den. Kör­per, See­le und Geist der Schü­le­rin­nen soll­ten sich glei­cher­ma­ßen ent­wi­ckeln. Die Schu­le über­sie­del­te spä­ter nach Darm­stadt und dann in das Schloss Kleß­heim bei Salz­burg. Mit­te der 1920er-Jah­re wur­de Eri­ka Gio­van­na Kli­en selbst Leh­re­rin an der Salz­bur­ger Elizabeth-Duncan-Schule.

Eri­ka Gio­van­na Kli­en und ihre Kol­le­gin­nen der Cizek-Schu­le ver­such­ten par­al­lel zu den Ent­wick­lun­gen im moder­nen Aus­drucks­tanz, den Ein­druck der äuße­ren Bewe­gung mit der durch einen inne­ren Rhyth­mus, eine see­li­sche Bewe­gung aus­ge­lös­ten Emp­fin­dung zu kop­peln und bei­de gemein­sam in einem Bild sicht­bar zu machen. Eri­ka Gio­van­na Kli­en gilt als eine der Haupt­ver­tre­te­rinn­nen des Wie­ner Kine­tis­mus. Ihre Kunst kann als indi­vi­du­el­le, regio­na­le Aus­for­mung der inter­na­tio­na­len Kunst­strö­mung des Kubo-Futu­ris­mus gese­hen werden.

Wie­ner Kine­tis­mus und Kubo-Futurismus

Der Wie­ner Kine­tis­mus hat­te sich zwi­schen Anfang und Mit­te der 1920er-Jah­re in der Klas­se von Franz Cizek an der Kunst­ge­wer­be­schu­le in Wien ent­wi­ckelt. Cizek lei­te­te dort die Abtei­lung für orna­men­ta­le For­men­leh­re. Sie war aus sei­nem Son­der­kurs für Jugend­kunst her­vor­ge­gan­gen und wur­de schon 1924 in die Anfän­ger­klas­se All­ge­mei­ne For­men­leh­re umge­wan­delt – was zeigt, dass man mit der Arbeit und den Gedan­ken Cizeks an der Kunst­ge­wer­be­schu­le nie viel anzu­fan­gen wuss­te. Man könn­te den Wie­ner Kine­tis­mus als eine öster­rei­chi­sche Spiel­art des damals in ver­schie­de­nen ost­eu­ro­päi­schen Län­dern blü­hen­den Kubo-Futu­ris­mus betrach­ten, doch wäre er damit nur unzu­rei­chend charakterisiert.

Der Kubo-Futu­ris­mus ver­such­te eigent­lich Unmög­li­ches – die sta­ti­sche Stil­le des Kubis­mus mit dem meist lär­men­den Geschwin­dig­keits­rausch der Futu­ris­ten zu ver­bin­den. Her­aus kam oft die Dar­stel­lung einer in deut­lich von­ein­an­der abge­ho­be­nen Pha­sen rhyth­mi­sier­ten, simul­tan erfass­ten Bewe­gung, deren For­men sich manch­mal in der Nähe kubis­ti­scher Kris­tal­li­sa­tio­nen hiel­ten, dann wie­der das Stak­ka­to der futu­ris­ti­schen Maschi­nen­welt sug­ge­rier­ten.4

Bio­gra­fie

1900:

am 12. April in Bor­go di Val­suga­na (Tren­ti­no) als Toch­ter des k. k. Bahn­be­am­ten Franz Kli­en geboren

1912 – 1913:

Über­sied­lung der Fami­lie nach Lie­zen, St. Anton, Schwarz­ach und Salzburg

1918 – 1919:

Über­sied­lung der Fami­lie nach Wien-Hütteldorf

1919:

Ein­tritt in die Wie­ner Kunst­ge­wer­be­schu­le und Besuch des Orna­ment­kur­ses bei Franz Cizek

1921 – 1922:

ers­te selbst­stän­di­ge künst­le­ri­sche Arbei­ten (Archi­tek­tur- und Figurenstudien)

1925:

Betei­li­gung an der inter­na­tio­na­len Kunst­ge­wer­be­aus­stel­lung in Paris

1926:

Leh­re­rin an der Eliza­beth-Dun­can-Schu­le in Salzburg

1926 – 1927:

Betei­li­gung an der Inter­na­tio­nal Exhi­bi­ti­on of Modern Art in New York

1929:

Rei­se nach New York. Kli­en bleibt in den USA

1929 – 1930:

Auf­ent­halt in Chicago

1930:

Unter­richt an der Spence School in New York; Per­so­nal­aus­stel­lung an der New School for Social Rese­arch in New York

1932:

Leh­re­rin an der Dal­ton School in New York; Per­so­nal­aus­stel­lung an der New School for Social Rese­arch in New York

1935:

Direk­to­rin am Art Depart­ment der Spence School, New York

1938:

Staats­bür­ge­rin der USA

1941 – 1945:

Unter­richt von Pri­vat­schü­lern. Gebrauchs­gra­fi­sche Stu­di­en und Entwürfe

1946 – 1951:

Leh­re­rin an der Walt Whit­man School in New York

1957:

stirbt am 19. Juli in New York

1958:

zahl­rei­che Bil­der gehen in den Besitz des Art Insti­tu­te of Chi­ca­go über

1987:

Retro­spek­ti­ve im Muse­um des 20. Jahr­hun­derts in Wien

1999:

Ein­zel­aus­stel­lung in der Staats­ga­le­rie Moder­ner Kunst München

2001:

Aus­stel­lun­gen über Eri­ka Gio­van­na Kli­en in der Uni­ver­si­tät für ange­wand­te Kunst Wien, im Mus­ei­on – Muse­um für moder­ne und zeit­ge­nös­si­sche Kunst, Bozen und im Muse­um für Moder­ne Ruper­ti­num Salzburg

Pro­ve­ni­enz

Die Zeich­nung wur­de im Jahr 1999 von der Münch­ner Gale­rie Pabst erwor­ben. Micha­el Pabst hat­te Arbei­ten von Kli­en aus dem Besitz von Frau Rochowan­sky erwor­ben. Zusam­men mit eini­gen Arbei­ten aus Kli­ens eige­nem Nach­lass zeig­te er bereits im Okto­ber 1975 die ers­te Kli­en-Aus­stel­lung in sei­ner Wie­ner Gale­rie.5

Ver­wen­de­te Literatur

Bern­hard Leit­ner (Hg.), Eri­ka Gio­van­na Kli­en. Wien New York 1900 – 1957, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, Uni­ver­si­tät für ange­wand­te Kunst Wien, Mus­ei­on Bozen, Ruper­ti­num Salz­burg, Ost­fil­dern-Ruit 2001.

Wie­land Schmied (Hg.), Geschich­te der bil­den­den Kunst in Öster­reich, Bd. 6: 20. Jahr­hun­dert, Mün­chen 2002.

Mari­et­ta Maut­ner Mark­hof, Eri­ka Gio­van­na Kli­en. Wien 1900 – 1957 New York, hg. v. der Gemäl­de­ga­le­rie Micha­el Kovacek, Wien 2001.

  1. Bildgedicht von Erika Giovanna Klien aus der Zeit um 1922/23. Zitiert nach: Marietta Mautner Markhof, Erika Giovanna Klien. Wien 1900 – 1957 New York, hg. v. der Gemäldegalerie Michael Kovacek, Wien 2001, S. 35.
  2. ebd., S. 23.
  3. aus einem Textauszug aus Leopold W. Rochowansky: „Formwille der Zeit“, Wien 1922, zitiert nach: Bernhard Leitner (Hg.), Erika Giovanna Klien. Wien New York 1900–1957, Ausstellungskatalog, Universität für angewandte Kunst Wien, Museion Bozen, Rupertinum Salzburg, Ostfildern-Ruit 2001, S. 22.
  4. Vgl. Wieland Schmied, „Die Malerei. Die Zwischenkriegszeit“, in: ders (Hg.), Geschichte der bildenden Kunst in Österreich, Bd. 6: 20. Jahrhundert, München 2002, S. 68-104, hier S. 102f.
  5. Vgl. Leitner 2001, S. 16.

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