Zum Hauptinhalt springen
Ernst Len, Carnevale a Venezia , 1982

Acryl auf Lein­wand, Schen­kung Bogen­sber­ger, Salz­burg, 1983

Das quer­for­ma­ti­ge Bild zeigt uns einen Spie­gel, der von zwei männ­li­chen Figu­ren flan­kiert wird; die eine steht davor, die ande­re dahin­ter. Dadurch erhält die Kom­po­si­ti­on eine Staf­fe­lung in die Bild­tie­fe. Die Män­ner tra­gen his­to­ri­sche Kos­tü­me, bestehend aus Bund­ho­sen, Wanst und Umhang sowie Hals­krau­se und einem Hut oder einer Kap­pe als Kopf­be­de­ckung. Sie ste­hen knö­chel­tief im Was­ser. Aqua alta in Venedig?

Der auf­wen­dig gerahm­te Spie­gel fun­giert als Bild im Bild. Er ist von einem Kreu­zes­zei­chen bekrönt, durch das eine fei­er­lich-sakra­le Kon­no­ta­ti­on in das Bild ein­ge­führt wird. In ihm sehen wir eine nack­te, eben­falls im Was­ser ste­hen­de Frau, die eine zuge­spitz­te Mas­ke trägt und sich fron­tal auf den Betrach­ter zube­wegt. Auf ihren Schul­tern sind zwei X‑Zeichen sicht­bar, auch ihre sekun­dä­ren Geschlechts­merk­ma­le sind durch rote Mar­kie­run­gen her­vor­ge­ho­ben. Ein Pfeil weist zusätz­lich auf die rät­sel­haf­te Frau­en­ge­stalt hin.

Her­ze und Kreu­ze umge­ben den weib­li­chen Akt, als reflek­tier­te sich eine Graf­fi­ti­wand in einem Spie­gel. Kön­nen wir uns sicher sein, es mit einem Spie­gel­bild zu tun zu haben, oder ist die Frau­en­dar­stel­lung viel­leicht doch ein Bild? Davor blickt eine vom Bild­rand ange­schnit­te­ne Mas­ke dämo­nisch aus dem Gemäl­de. Sie wirkt wie ein Wesen aus einer ande­ren Welt. Mit sol­chen Mas­ken wur­den mit­tel­al­ter­li­che Brü­cken ver­ziert. Ihnen wohnt ein Bann- und Abwehr­zau­ber inne.
Auch der Bild­hin­ter­grund ist von einem unheim­li­chen Flü­gel­kopf bevöl­kert. Das Spie­gel­bild und die bei­den Män­ner ver­schmel­zen zu einer gemein­sa­men Pro­jek­ti­ons­flä­che. Ein flir­ren­der Zusam­men­hang, der auch in den Betrach­te­rIn­nen Unsi­cher­heit aus­löst. Wo spielt sich die Sze­ne­rie ab? Wer sind die Dar­ge­stell­ten und was ver­ber­gen sie vor uns? Der rote Hin­ter­grund ist beun­ru­hi­gend. Die Farbli­ni­en win­den sich schlan­gen­för­mig durch das Bild. Sie erwe­cken die Asso­zia­ti­on von Blut. Küh­ne Recken mit Schwert am Gurt und Mas­ken im Gesicht – ist die Frau im Spie­gel ernst­haft in Gefahr? Weiß­hö­hun­gen wer­fen ein gespens­ti­sches Licht auf die Sze­ne­rie. Die Unklar­heit der räum­li­chen Ver­hält­nis­se sowie die dif­fu­se Licht­si­tua­ti­on erhö­hen die Span­nung im Bild. Die Angst kriecht einen in den Nacken. Man ist sich sei­nes Lebens nicht mehr sicher.


Der Kar­ne­val in Vene­dig ist schau­rig-schön. In die­ser Zeit gibt es kei­ne Gewiss­hei­ten, kein siche­res Auf­tre­ten auf fes­tem Grund. Alles ist in der Schwe­be und in Ver­än­de­rung. Die Stadt ist in einem Aus­nah­me­zu­stand. Sein und Schein ver­schwim­men. Vene­zia­ner und Tou­ris­ten ver­klei­den sich, hin­ter Mas­ken ver­ber­gen sie ihr wah­res Ich. Die Mas­ke erlaubt ihnen, jemand ande­rer zu sein und sich anders zu ver­hal­ten als im wirk­li­chen Leben. Hin­ter Mas­ken ver­schanz­ten sich auch ehe­dem schon Meu­chel­mör­der, Gangs­ter und die Damen des leich­ten Gewer­bes. Hin­ter Mas­ken lässt es sich gut tuscheln und ver­leum­den. Dif­fa­mie­rung und Denun­zia­ti­on waren im his­to­ri­schen Vene­dig an der Tagesordnung.


Die in Ernst Lens Gemäl­de so auf­fäl­li­gen Pfei­le und Kreu­ze, die Her­ze und X‑Zeichen stam­men aus der Street Cul­tu­re. Sie wer­den dort an Häu­ser­fas­sa­den ange­bracht, um Revier­gren­zen abzu­ste­cken oder ande­re wich­ti­ge Bot­schaf­ten an Gestran­de­te des Under­grounds zu über­mit­teln. Spie­gel­bild und Sze­ne­rie ver­schmel­zen zu einem ein­zi­gen Bild, zu einem sicht­ba­ren Aus­druck von Sein und Schein, von phy­si­scher Prä­senz und repro­du­zier­ter Wirk­lich­keit. Das Vale-Car­ne­va­le‘ ent­rich­tet den Gruß Vale‘ nicht nur dem Fasching Car­ne­va­le‘, son­dern schließt das Fleisch Car­ne‘ ein, das dem Trei­ben der unver­gnüg­li­chen Misch­we­sen ver­bor­gen zugrun­de­liegt.“1 Es geht um Eros und Tod. Dem Wort Car­ne­va­le“ liegt die Fleisch­lich­keit der mensch­li­chen Exis­tenz zugrunde.

Len erweist sich in der Behand­lung und künst­le­ri­schen Gestal­tung sei­ner The­men als enga­gier­ter, die Her­aus­for­de­run­gen des Lebens akzep­tie­ren­der Künst­ler, der dazu aller­dings zumeist in ver­schlüs­sel­ter und nicht in direk­ter Form Stel­lung bezieht. Sei­ne rege Vor­stel­lungs­kraft geht dabei eine schöp­fe­ri­sche Syn­the­se mit der kon­kre­ten Wirk­lich­keit ein, mit All­tags­er­fah­run­gen und ihren viel­fäl­tig inein­an­der grei­fen­den Wirk­lich­keits­be­zü­gen.“2Das Gemäl­de ist Teil einer grö­ße­ren Serie, die in Vene­dig ent­stan­den ist. In ihr setzt sich der Künst­ler vor allem mit der Hin­ter­fra­gung der Wirk­lich­keit, mit Pro­jek­tio­nen und Spie­ge­lun­gen aus­ein­an­der. Die­se unter­schied­li­chen Wahr­neh­mungs­phä­no­me­ne sind exis­ten­zi­ell und wir begeg­nen ihnen in meta­pho­ri­scher Wei­se oder real viel häu­fi­ger, als wir uns ein­ge­ste­hen möch­ten. Hier geht es um die Kon­tin­genz der Welt, das heißt dar­um, wie wir uns in ihr zurecht­fin­den. Der Fasching und sei­ne ver­scho­be­ne Wirk­lich­keits­per­spek­ti­ve stel­len Para­de­bei­spie­le für die Aus­ein­an­der­set­zung mit die­sem Topos dar.

Pro­ve­ni­enz

Die Zeich­nung kam als Schen­kung Bogen­sber­ger, Salz­burg, in die Museumssammlung.

Bio­gra­fie

geb. 1946 in Wien

1969:

Stu­di­um an der Hoch­schu­le für bil­den­de Kunst, Hamburg

1975 – 1979:

kon­zep­tu­el­le Arbeit mit dem eige­nen Kör­per, Foto­gra­fie, Video, Zeich­nung, Per­for­mance mit der erklär­ten Absicht einer Neu­fin­dung von Male­rei, nach den Erkennt­nis­sen von Kon­zept, Pro­zess, Medi­en­kunst und Körpererfahrung

1977:

Ernst-Koref-Preis

1978:

Hun­ger­pro­zess Matt­mark“ Schweiz (Selbst­fo­to­gra­fie mit auto­ma­ti­schen Kame­ras, Serienerforschungszeichnungen)

1979:

Pro­zess unter Plas­tik, Wien, Video, Foto­gra­fie, Zeich­nun­gen. Ver­san­dun­gen, Bre­ta­gne (Pola­roid­fo­to­gra­fie, Zeichnungen)

1980 – 1983:

Öl-Mono­ty­pie­se­ri­en (Male­rei als Abdruck geleb­ter Wirk­lich­keit). Lehr­auf­trag für Male­rei an der Hoch­schu­le Mozar­te­um in Salzburg

1982:

Aus­stel­lung im Kul­tur­zen­trum bei den Mino­ri­ten, Graz

1984:

Homo­ca­put­mor­tu­um und Camu­na-Buch (Haupt­wer­ke der rekon­struk­ti­ven Male­rei exis­ten­zi­el­len Ursprungs)

1981:

Ernst-Koref-Preis. Staats­sti­pen­di­um des Bun­des­mi­nis­te­ri­ums für Unter­richt und Kunst, Wien

1982:

Car­ne­va­le di Vene­zia (Per­for­mance, Foto­gra­fie, Zeich­nung, Male­rei). Serie Vale-Car­ne­va­le (Male­rei in Öl auf Leinwand)

1983:

wei­te­rer Auf­ent­halt in Vene­dig, Fort­set­zung des Zyklus Vale-Car­ne­va­le mit Zeich­nun­gen in Misch­tech­nik auf Büttenpapier

1985:

La putt­a­na erran­te, Wie­ner Nacht­stü­cke, Rand­schmerz, Lebens­zei­chen, Pro­ël­la, Das Ande­re Tier (Grenz­gän­ge zwi­schen Male­rei und Zeich­nung, Cha­os und Ordnung)

1985:

Aus­stel­lung in der Neu­en Gale­rie der Stadt Linz

1986:

Pro­ël­la II (Das Nichts, das Cha­os, die Ord­nung, die Form), Gar­ten­zeich­nun­gen, Casa rasa, Bil­der für ein ver­las­se­nes Zimmer

1986:

För­de­rungs­preis der Salz­bur­ger Landesregierung

1987:

Die sibi­ri­sche Rei­se
lebt seit 1989 als EVA (Künst­ler­grup­pe EVA & ADE­LE) in Berlin

Ver­wen­de­te Literatur

Ernst Len. Heim­kehr zum Auf­bruch, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, Kunst­ver­ein Göt­tin­gen, Gale­rie Stahl­ber­ger, Weil am Rhein, Göt­tin­gen – Weil am Rhein 1987.

Ernst Len. Male­rei und Zeich­nung, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, Gale­rie Kre­mer-Ten­gel­mann, Gel­sen­kir­chen, Gel­sen­kir­chen 1985.

Vater, Mut­ter & Len, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, Gale­rie Ernst Hil­ger, Wien, Wien 1986.

Ernst Len. Arbei­ten auf Papier 1980 – 84, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, Neue Gale­rie der Stadt Linz (= Öster­rei­chi­sche Kunst der Gegen­wart II), Linz 1985. 

  1. Thomas Zaunschirm, Vater, Mutter & Len. Der Farbzündler, Ausstellungskatalog, Galerie Ernst Hilger, Wien, Wien 1986, o. S.
  2. Peter Baum, Ernst Len. Arbeiten auf Papier 1980–84, Ausstellungskatalog, Neue Galerie der Stadt Linz (= Österreichische Kunst der Gegenwart II), Linz 1985, S. 10.

Newsletter

Premium Corporate Partner
Corporate Partner
Ausgezeichnet mit dem Österreichischen Umweltzeichen für Museen
Museen der Stadt Linz

Diese Website verwendet Cookies um das Nutzererlebnis zu verbessern. Mehr dazu