Bleistift auf Papier, 16,5 x 20,6 cm
Ein tanzendes Paar – die Frau wendet uns den Rücken zu, während wir ihren Tanzpartner gerade noch von der Seite wahrnehmen können. Ein Herr ist soeben dabei, seinen Sitzplatz zu verlassen. Wird er den nächsten Tanz mit der schwungvollen Danseuse bestreiten?
Die Tanzenden bilden den dezentralen Fokus der Zeichnung. Sie sind Teil einer bipolaren Komposition, deren zweiter Part der Mann im Bildhintergrund bildet. Alle drei Figuren sind an der Kompositionslinie einer von links oben nach rechts unten abfallenden Diagonale angeordnet. Das ungleiche Kräfteverhältnis, wonach eine einzelne Figur einem Figurenpaar gegenübergestellt ist, erhöht die Spannung im Bild. Die dezentrale Anordnung der Tanzenden steigert den Eindruck des Momenthaften, des kurzen festgehaltenen Augenblicks.
Die Linien sind kraftvoll, kantig, rasch aufs Papier gesetzt.1 Binnenzeichnungen sind kaum vorhanden. In virulentem Strich ausgeführte, keilartige Liniengefüge finden sich an allen drei Figuren und verspannen somit Bildvorder- und ‑hintergrund. Die parallel geführten, sich gegenseitig verstärkenden Strichlagen bringen die kreisende Bewegung des tanzenden Paares besonders gut zum Ausdruck. Die Räumlichkeit wird lediglich durch ein paar Striche angedeutet. Der Grad der Ausführung der Zeichnung entspricht daher summa summarum dem Charakter einer Skizze. Für Kirchner waren diese nicht in jedem Fall als Vorstudien für Gemälde gedacht. Die Skizze hatte für ihn vielmehr den Stellenwert einer „allgemeine[n] Studie und Inspirationsquelle.“2 Kirchner betonte mehrmals, er müsse „zeichnen bis zur Raserei.“3 In seinen Zeichnungen ging es nicht um das „genaue, akademisch-präzise Abzeichnen nach der Natur, sondern um das schnelle Erfassen der Komposition ohne Einzelheiten“4. Der Künstler gelangte dadurch zu einem reduzierten Zeichenstil, der – entsprechend den Anregungen aus dem Dresdner Völkerkundemuseum – die Kunst zu einer neuen Ursprünglichkeit zurückführen sollte. 1910 hatte Kirchner „die erste Stufe seiner Meisterschaft erreicht,“5 weist die Leiterin des Berliner Brücke-Museums und Expertin für die Künstler der Künstlervereinigung Die Brücke, Magdalena M. Möller hin. Möller: „Das skizzenhafte Improvisieren führt Kirchner unmittelbar zur Erfindung von Bildzeichen, von summarischen Strichgebilden, wie er insgesamt zu immer schrofferen Formen vorstößt, so daß er von seinem weichen Stil zum harten Stil gelangt.“6 Die kantigen Linien, die unser Skizzenblatt kennzeichnen, sind beispielhaft für den harten Stil und deuten somit auf ein Entstehungsjahr ab 1910 hin.
Das grafische Blatt entstammt einem Skizzenbuch Kirchners, das sich heute zu großen Teilen in den Staatlichen Museen in Kassel befindet.7 Die abgerundeten Ecken und der erkennbare Rotschnitt sind ein eindeutiges Indiz dafür. Dieses Skizzenbuch gehörte der Schweizerin Lise Gujer (1897 – 1967), die mehrere Teppiche nach Motiven Kirchners anfertigte.8 Gujer besaß mehrere Skizzenbücher Kirchners. Manche erwarb sie direkt von Kirchner, andere erhielt sie nach dem Tode von Kirchners Lebensgefährtin Erna Schilling im Jahr 1945. Das für die Lentos-Zeichnung relevante Skizzenbuch bestand aus mehreren Doppelblättern, die mit zwei Metallklammern zusammengeheftet waren. Wie Größenvergleiche erkennen lassen, wurde unsere Zeichnung aus dem Skizzenbuch herausgeschnitten und vermutlich dadurch von anderen Darstellungen abgetrennt. So ist es auch zu erklären, dass der Kopf des Mannes im Bildhintergrund etwas zu knapp an den oberen Bildrand gerückt scheint. Er scheint den Rahmen beinahe zu sprengen. Das Skizzenbuch entstand in mehreren zeitlichen Teilabschnitten zwischen 1910/11, 1916/17 und 1920.9 Entsprechend der inhaltlichen Vorgabe, des charakteristischen Duktus sowie der Ausführung in Bleistift dürfte sich unsere Zeichnung im um 1910/11 ausgeführten Teil befunden haben. Dieser zeigt auf anderen Blättern ebenfalls mit Bleistift gezeichnete Tänzerinnen. Wie die Kunsthistorikerin und jetzige Direktorin des Kunstforums Ostdeutsche Galerie Regensburg Agnes Tieze erläutert, dürfte die besonders kühne Linienführung der Skizzenblätter den modernen Ausdrucks- und Varietétanz des frühen 20. Jahrhunderts wiedergeben.6
Nach seiner Übersiedlung nach Berlin im Jahr 1911 interessierte sich Ernst Ludwig Kirchner für Themen der Großstadt. So entstanden unter anderem Zeichnungen mit Stadtansichten und Straßenzügen. Varieté und Zirkus erweiterten das Formenrepertoire des Künstlers. Die Skizze im Besitz des Lentos versprüht das Flair der Spreemetropole. Die Mode ist mondän und etwas frivol. Die Zeit ist schnelllebig geworden. Auf Amüsement und Distraction wird großen Wert gelegt, als wollte man die entbehrungsreiche Zeit der herannahende Weltkriege schon im Vorfeld kompensieren.
Im Katalog der Documenta III bezeichnet Werner Haftmann Ernst Ludwig Kirchner als den „größten Zeichner des deutschen Expressionismus.“10 Dies bekräftigt Magdalena M. Moeller, wenn sie feststellt: „Kein anderer Künstler seiner Zeit hat so intensiv gezeichnet wie Ernst Ludwig Kirchner. Von keinem wird Kirchner an Erfindungsreichtum, Formenvielfalt und Ausdruckskraft übertroffen.“11
Biografie
1880:
wird Ernst Ludwig Kirchner in Aschaffenburg geboren
1901 – 1904:
Architekturstudium in Dresden. Freundschaft mit Fritz Bleyl, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff
1905:
7. Juni: Gründung der Künstlergemeinschaft Die Brücke
1906:
Begegnung mit Emil Nolde
1909:
mit Otto Pechstein, Erich Heckel und dem Modell Fränzi Fehrmann an den Moritzburger Teichen
1910:
lernt Otto Müller kennen
1911:
Umzug nach Berlin. Nach 4 Ausstellungen der Brücke in der Neuen Sezession in der Galerie Macht in Berlin in den Jahren 1910 und 1911 folgte die entscheidende Ausstellung im April 1912 in der Galerie Gurlitt mit Bildern von Ernst Ludwig Kirchner, Karl Schmidt-Rottluff und Otto Mueller
1912:
Begegnung mit Edvard Munch
1913:
Auflösung der Brücke
1915:
Rekrut. Militärzeit. Nach Zusammenbruch und Entlassung Sanatoriumsaufenthalt
1916:
Wandmalerei im Brunnenraum des Sanatoriums in Königsstein am Taunus
1917:
Reise nach Davos. Van de Velde vermittelt ihm einen Sanatoriumsaufenthalt in Kreuzlingen
1918:
lernt Nele van de Velde kennen und bezieht das Haus In den Lärchen in Frauenkirch
1918 – 1938:
Aufenthalt in Davos
1919:
Beginn der Arbeit am Davoser Tagebuch
1920:
Nele van de Velde arbeitet mit Kirchner
1921:
die Tänzerin Nina Hart ist im Sommer sein Modell
1926:
Deutschlandsreise, besucht Fränzi Fehrmann in Dresden
1927:
Auftrag für Wandmalereien im Museum Folkwang in Dresden
1931:
Mitglied der Akademie der Bildenden Künste Berlin
1932:
Besuch des Arztes und Schriftstellers Alfred Döblin bei Kirchner
1933:
Ausstellung in der Kunsthalle Bern
1934:
lernt Oskar Schlemmer und Paul Klee kennen
1936:
Relief für das Schulhaus in Frauenkirch
1937:
639 Werke Kirchners werden von den Nazis als entartet beschlagnahmt.
1938:
15 Juni: Freitod Kirchners
Provenienz
Die Zeichnung stammt ursprünglich aus dem Nachlass Lise Gujer. Sie wurde im Juni 1985 von einer Bonner Galerie erworben.
Verwendete Literatur
Ernst Ludwig Kirchner. Dokumente. Fotos, Schriften, Briefe, gesammelt und ausgewählt von Karlheinz Gabler. Ausstellungskatalog des Museums der Stadt Aschaffenburg. Aschaffenburg 1980
„In Momenten größten Rausches“. Ernst Ludwig Kirchner. Zeichnungen, Druckgraphik. Der Bestand der Graphischen Sammlung der Staatlichen Museen Kassel (= Kataloge der Staatlichen Museen Kassel, Bd. 27). Kassel 2002
Moeller Magdalena M.: Ernst Ludwig Kirchner. Zeichnungen und Aquarelle. Ausstellungskatalog des Brücke Museums Berlin u.a. München 1993
- Tietze, Agnes: Kat. Nr. 63. „In Momenten größten Rausches“. Ernst Ludwig Kirchner. Zeichnungen, Druckgraphik. Der Bestand der Graphischen Sammlung der Staatlichen Museen Kassel (= Kataloge der Staatlichen Museen Kassel, Bd. 27). Kassel 2002, S. 178ff.
- zit. nach: Thiele, Carmela: Schnellkurs Zeichnung. Köln 2006, S. 153.
- Moeller Magdalena M.: Ernst Ludwig Kirchner. Zeichnungen und Aquarelle München 1993Moeller Magdalena M.: Ernst Ludwig Kirchner. Zeichnungen und Aquarelle München 1993, S. 10.
- ebd., S. 11.
- ebd.
- wie Anm. 1.
- Vgl. E. L. Kirchner. Dokumente. Fotos, Schriften, Briefe, gesammelt und ausgewählt von Karlheinz Gabler. Ausstellungskatalog des Museums der Stadt Aschaffenburg. Aschaffenburg 1980, S. 237 und „In Momenten größten Rausches“. Ernst Ludwig Kirchner. Zeichnungen, Druckgraphik. Der Bestand der Graphischen Sammlung der Staatlichen Museen Kassel (= Kataloge der Staatlichen Museen Kassel, Bd. 27). Kassel 2002, S. 178: Der Schriftsteller Jakob Bosshart brachte 1922 die gebürtige Züricherin Lise Gujer mit Kirchner in Verbindung. Ursprünglich hatte sie ein Sanatorium in Davos geleitet. Durch eine Fußverletzung konnte sie ihren ursprünglichen Beruf nicht mehr ausüben und wurde Weberin. Bis zu ihrem Tod hat Gujer 28 Werke Kirchners in Wirkteppiche umgesetzt.
- Vgl. Tietze, Agnes: Kat. Nr. 63, in: „In Momenten größten Rausches“. Ernst Ludwig Kirchner. Zeichnungen, Druckgraphik. Der Bestand der Graphischen Sammlung der Staatlichen Museen Kassel (= Kataloge der Staatlichen Museen Kassel, Bd. 27). Kassel 2002, S. 178ff.: Einige Bögen befinden sich im Bestand der Graphischen Sammlung der Staatlichen Museen Kassel. Die vorangehenden Bögen (Folio 1-5) zeigen Tänzerinnen in verschiedenen Bewegungsmotiven, Folio 6,7 und 16 Mann und Frau im Gespräch, eine Drechselbank und einen sitzenden Mann, 8-15 zeigen Figurenstudien die in blauer Farbe ausgeführt wurden.
- Ausstellungskatalog der Documenta III. Handzeichnungen. Kassel 1964. o. S.
- Moeller Magdalena M.: Ernst Ludwig Kirchner. Zeichnungen und Aquarelle München 1993, S. 9.