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Franz Ringel, , o. D. (ca. 1970–1971)

Misch­tech­nik (Gra­fit, Ölkrei­den, Col­la­ge) auf Papier, 60,5×69,5cm

Rin­gels Bil­der­welt. Ihr Anse­hen bewirk­te, daß man still sein konn­te, um in Gesell­schaft des Malers zu schau­en. […] Plötz­lich sehe ich die vie­len Bil­der als ein Bild, als eine hoch­fah­ren­de Ges­te, die nicht nach­gibt, als etwas Her­ri­sches, das sich wild gebär­det, als eine Thea­tra­lik mit stol­zen, ihre Defor­ma­ti­on exhi­bi­tio­nie­ren­den Figu­ren.“ 1

Eine mensch­li­che Figur steckt in einem stie­fel­ar­ti­gen Behäl­ter, der auf einem Sockel steht. Halb blickt die Per­son uns an, halb schaut sie auf eine Büs­te, die sich ihr gegen­über befin­det. Durch eine Öff­nung im Stie­fel ergießt sich eine blaue Flüs­sig­keit auf den Boden des Sockels und ver­mengt sich mit einer rosa­far­be­nen Sub­stanz, die sich vor einem hohen Podest aus­brei­tet. Dar­auf erhebt sich über einer tie­fen zap­fen­för­mi­gen Ver­an­ke­rung eine janus­köp­fi­ge Büs­te mit aus­drucks­vol­ler Mimik. Vom obe­ren Ende des nied­ri­gen Sockels führt ein röh­ren­för­mi­ger Schlauch zu einer Vitri­ne. Dar­in ragt eine zwei­te Kopf­büs­te empor, die eben­falls in einem dunk­len Fort­satz nach unten aus­läuft. Alle drei Figu­ren bli­cken zuein­an­der. Der männ­li­che Prot­ago­nist ist kör­per­plas­tisch dar­ge­stellt; sei­ne Arme sind mit­ein­an­der ver­bun­den, sei­ne Bei­ne enden fisch­schwanz­ähn­lich – ein Misch­we­sen, das wie ein Geist aus der Fla­sche kommt. Die bei­den Frau­en­por­träts sind auf kör­per­lo­se Gesichts­dar­stel­lun­gen reduziert.


Brun­nen­fi­gur, blau – die Titel­ge­bung zieht den Ana­lo­gie­schluss nach sich, dass es auch Brun­nen­fi­gu­ren in ande­ren Far­ben geben könn­te. Die Zeich­nung könn­te also Teil einer Serie sein. Der Bild­ti­tel liest sich wie ein Arti­kel aus einem Bestell­ka­ta­log eines Gar­ten­cen­ters. Die dar­in ent­hal­te­ne Anspie­lung auf Was­ser weist auf eine Dar­stel­lung see­li­scher Pro­zes­se hin: In Rin­gels Zeich­nung geht es um Gefüh­le und psy­chi­sche Konflikte.

Wir kön­nen die im Stie­fel“ ste­hen­de Figur als ein Selbst­por­trät Rin­gels betrach­ten. Der Künst­ler schil­dert in die­ser Zeich­nung sei­ne Rela­ti­on zu zwei für sein Leben beson­ders wich­ti­gen Frau­en. Rin­gels wich­tigs­te Bezugs­per­so­nen waren sei­ne Zieh­mut­ter Mar­ga­re­the, sei­ne leib­li­che Mut­ter Julia­ne und sei­ne Ehe­frau Maria. Der Künst­ler signier­te ab 1980 sogar mit den Initia­len die­ser drei Frau­en. Wel­chen zwei die­ser drei Frau­en im vor­lie­gen­den Blatt zur Dar­stel­lung kom­men, lässt sich nicht eruieren.

Innen und außen: Glas­stür­ze schüt­zen und erlau­ben Ein­bli­cke. Der Haupt­prot­ago­nist hat sei­ne schüt­zen­de Hül­le und damit sei­ne Ver­bin­dung zu der Frau im trans­pa­ren­ten Kubus bereits abge­streift. Die intrau­te­ri­ne Anbin­dung an das Müt­ter­li­che gehört somit der Ver­gan­gen­heit an. Dazu mein­te der Wie­ner Arzt und Psy­cho­ana­ly­ti­ker Wil­helm Ste­kel: Zu den son­der­bars­ten Träu­men gehö­ren wohl die Träu­me, im Mut­ter­leib zu sein und dort alle Vor­gän­ge des Intrau­ter­in­le­bens zu beob­ach­ten. Die­se Träu­me sind oft ver­steckt und kaum zu deu­ten, wenn man nur die Ein­fäl­le des Träu­mers berück­sich­tigt. Sie zei­gen die son­der­bars­ten Vor­stel­lun­gen.“2

Die zwei­te Frau­en­dar­stel­lung erhebt sich vis-à-vis vom Haupt­dar­stel­ler. Der von der Frau­en­büs­te aus­ge­hen­de rosa­ro­te Boden­satz ver­mischt sich mit dem blau­en: ein Sinn­bild, das auf eine libi­di­nö­se Ver­bin­dung anspie­len könn­te. Die mit­ein­an­der ver­bun­de­nen Arme deu­ten auf äuße­ren Zwang hin; die Dar­stel­lung der Frau als Büs­te ver­weist auf eine ido­l­ar­ti­ge Erhö­hung des weib­li­chen Gegenübers.

Licht und Far­be erzeu­gen gro­ße kolo­ris­ti­sche Wer­te, die zwi­schen Gelb und Blau chan­gie­ren. Die bei­na­he über­ir­disch leuch­ten­den Far­ben legen nahe, dass die Dar­stel­lung nichts mehr mit der Wirk­lich­keit zu tun hat [… und] von Inner­lich­keit ist, unab­hän­gig von den visu­ell erfahr­ba­ren Äußer­lich­kei­ten“3. Die Zeich­nung wirkt wie ein hell erleuch­te­tes Altarr­e­ta­bel, das von einem schwar­zen Grund hin­ter­fan­gen wird. Die Dar­stel­lung des Prot­ago­nis­ten und der zwei Frau­en wird somit in eine hie­ra­ti­sche Dimen­si­on ent­ho­ben. Durch die dop­pel­te Rah­mung der Erzäh­lung ent­steht ein her­me­ti­scher Abschluss, der das Zwang­haf­te der Dar­stel­lung verstärkt.


Brun­nen­fi­gur, blau zeigt eine selbst­re­fle­xi­ve Aus­ein­an­der­set­zung des Künst­lers, die der Kunst­his­to­ri­ker Peter Gor­sen fol­gen­der­ma­ßen deu­ten wür­de: Der Schock des libi­di­nös allein Gelas­se­nen, des Autis­ten, des mit Frus­tra­ti­on und sozia­ler Anpas­sung nicht Ver­söhn­ten durch­zuckt auch jene Dar­stel­lun­gen, die Zwei­er- und Drei­er­fi­gu­ra­tio­nen auf­wei­sen und auf den ers­ten Blick eine kom­mu­ni­ka­ti­ve Situa­ti­on zu ver­mit­teln schei­nen. […] Es han­delt sich um phan­tas­ti­sche Meta­phern des Mutter-Kind(Sohn)-Verhältnisses in der lebens­lan­gen Pha­se der Ver­drän­gung […].“4

Franz Rin­gel selbst wur­de als ein Mensch mit einer Ich­schwä­che und einem gefähr­de­ten Selbst“5 ein­ge­stuft. Es wur­de ihm ein Nahe­ver­hält­nis zu der von Prinz­horn gepfleg­ten Bild­ne­rei der Geis­tes­kran­ken‘, der Gug­gin­ger Schu­le unter Leo Nav­ra­til und der von Dani­el Paul Schre­ber geof­fen­bar­ten Grund­spra­che‘ (die von Gott selbst gespro­chen wird)“6 beschei­nigt. Jean Dubuf­fet soll in dem, was er von Rin­gel in Paris zu sehen bekam, jenen Geist, dem er in der von ihm pro­pa­gier­ten Art Brut‘ Gel­tung ver­schafft hat­te“7, gewit­tert haben. Otto Breicha führ­te den Künst­ler schließ­lich als Mit­glied der Grup­pe Wirk­lich­kei­tenan.

Aus der Distanz von mehr als vier­zig Jah­ren seit der Ent­ste­hung der Zeich­nung erscheint es wesent­lich, die Auto­no­mie sei­nes Œuvres her­vor­zu­he­ben: die ener­vier­te Inten­si­tät der rin­gel­schen Bild­spra­che, die eine beson­ders aus­drucks­star­ke Dar­stel­lungs­wei­se grund­le­gen­der see­li­scher Pro­zes­se vor Augen führt.

Wirk­lich­kei­ten

Wirk­lich­kei­ten ist der Name einer Grup­pe von öster­rei­chi­schen Malern, die in den 1960er- und 1970er-Jah­ren für Auf­se­hen sorg­te. Die sechs Mit­glie­der fan­den sich erst­mals im poli­tisch beweg­ten Mai 1968 für eine Aus­stel­lung in der Wie­ner Seces­si­on zusam­men. Sie gal­ten als Ver­tre­ter eines sati­risch bis sozi­al­kri­tisch gefärb­ten Rea­lis­mus, im Gegen­satz zum damals inter­na­tio­nal domi­nie­ren­den unpo­li­ti­schen Infor­mel, hat­ten aber kein ver­bind­li­ches gemein­sa­mes künst­le­ri­sches Kon­zept. Trotz­dem tra­ten sie bis 1975 immer wie­der gemein­sam in Erschei­nung, was zu Otto Breichas The­se Anlass gab, es hand­le sich um eine Grup­pe, die eigent­lich kei­ne sei. Vom Wie­ner Kunst­kri­ti­ker Alfred Schmel­ler wur­den sie als Kro­ko­dil im Karp­fen­teich‘ bezeich­net, wobei er als Karp­fen die Ver­tre­ter der abs­trak­ten Kunst ansah. Der Name Wirk­lich­kei­ten geht zurück auf einen Bild­ti­tel von Kurt Kocher­scheidt.“8 Mit­glie­der der Grup­pe waren Wolf­gang Her­zig, Mar­tha Jung­wirth, Kurt Kocher­scheidt, Peter Pon­gratz, Franz Rin­gel und Robert Zep­pel-Sperl.9

Pro­ve­ni­enz

Die Gra­fik wur­de 1984 aus Wie­ner Pri­vat­be­sitz erworben.

Bio­gra­fie

1940:

gebo­ren am 1.4. in Graz

1955 – 1958:

Besuch der Kunst­ge­wer­be­schu­le Graz (Kera­mik­klas­se Prof. Ada­metz), wo Rin­gel Wolf­gang Her­zig und Dra­go Pre­log kennenlernt

1958:

Über­sied­lung nach Wien und Stu­di­um an der Hoch­schu­le für ange­wand­te Kunst bei Prof. Hans Knesl

1959:

Stu­di­um an die Aka­de­mie der bil­den­den Küns­te Wien (bei Ser­gi­us Pau­ser und Albert Paris Güters­loh). Adolf Froh­ner nomi­niert Rin­gel für die Jugend­bi­en­na­le in Paris. Dort lernt er Jean Dubuf­fet ken­nen, der den Kon­takt zur Gale­rie Jakob vermittelt

1972 – 1973:

Auf­ent­halt in Paris

1986:

gemein­sam mit Peter Pon­gratz und Kurt Kocher­scheidt Grün­dungs­mit­glied der Künst­ler­grup­pe Wirk­lich­kei­ten. Gemein­sa­me Aus­stel­lung in der Wie­ner Seces­si­on. 1980: Ände­rung der Signa­tur auf M.J.M. Ringel“

2011:

gestor­ben am 28.10. in Graz

Prei­se

Rin­gel wur­den zahl­rei­che Prei­se ver­lie­hen: der Theo­dor-Kör­ner-Preis, der Preis der Stadt Wien, der Wür­di­gungs­preis des Bun­des­mi­nis­te­ri­ums für Unter­richt und Kunst und der Wür­di­gungs­preis des Lan­des Stei­er­mark für Bil­den­de Kunst.

Ein­zel­aus­stel­lun­gen (Aus­wahl ab 1981)

1981:

Seces­si­on, Wien

1982:

Gale­rie Cont­act, Wien

1985:

Kul­tur­haus, Graz

1986:

Gale­rie Stei­nek, Wien

1991:

Muse­um Moder­ner Kunst, Wien; Palais Liech­ten­stein, Wien; Gale­rie Stei­nek, Wien; Gale­rie Timm Gie­rig, Lein­wand­haus, Frank­furt am Main;

1992:

Gale­rie Stei­nek, Wien; Gale­rie Figl, Linz

1995:

Gale­rie Timm Gie­rig, Lein­wand­haus, Frank­furt am Main; Gale­rie Cont­act, Wien; Kunst­amt Wed­ding, Berlin

1996:

Gale­rie Stei­nek, Wien; Gale­rie Gerers­dor­fer, Wien

1997:

Gale­rie Spitz­bart, Gmun­den; Gale­rie Stei­nek, Wien

1998:

Espace Ernst Hil­ger, Paris; Gale­rie Latal, Zürich; Gale­rie Zeit­kunst, Kitz­bü­hel; Gal­le­ria del Navi­glia, Mailand

1999:

Kul­tur­haus, Graz; Muse­um Moder­ner Kunst, Pas­sau; Palais Har­r­ach, Wien; Gale­rie 3, Klagenfurt

2003:

Aus­stel­lung der Künst­ler­grup­pe Wirk­lich­kei­ten, u. a. mit Wer­ken von Franz Rin­gel, Muse­um Moder­ner Kunst, Stif­tung Wör­len, Pas­sau; Wirk­lich­kei­ten 1963 – 1975, Kunst Haus, Wien

2004:

Zwi­schen Wahn amp Sinn, M‑ART inter­na­tio­na­le Gale­rie am Bör­se­platz, Wien; Akte 04, Gale­rie Gerers­dor­fer, Wien; Angst, Gale­rie Hil­ger, Wien

2005:

Franz Rin­gel, Gale­rie Ernst Hil­ger, Wien

2006:

Gale­rie Thie­le, Linz; Gale­rie Stei­nek, Wien

2007:

Der Fie­ber­kopf, Gale­rie Leon­hard, Graz; Gale­rie Gössl, Fürstenfeld

Lite­ra­tur

Franz Rin­gel, Aus­stel­lungs­ka­ta­log Nr. 7, Gale­rie Sydow, Frankfurt/​Main 1971. 

Hein­rich von Sydow-Zirkwitz (Hg.), Franz Rin­gel,Aus­stel­lungs­ka­ta­log, Gale­rie Sydow-Zirkwitz, Frankfurt/​Main, Frankfurt/​Main 1975. 

M.J.M Rin­gel. Selbst­por­träts, o. O. [Wien] 1986. 

Otto Breicha (Hg.), Wirk­lich­kei­ten. Aspek­te einer Grup­pie­rung, [Wien]1988.

M.J.M Rin­gel. Arbei­ten auf Papier, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, Muse­um Moder­ner Kunst, Palais Liech­ten­stein, Wien, Wien 1991. 

  1. Franz Schuh, „Der Maler Ringel. Ein Portrait“, in: M.J.M Ringel. Arbeiten auf Papier, Ausstellungskatalog, Museum Moderner Kunst, Palais Liechtenstein, Wien, Wien 1991, S. 21–30, hier S. 23.
  2. Wilhelm Stekel, „Die Sprache des Traums“, in: Franz Ringel, Ausstellungskatalog, Galerie Sydow-Zirkwitz, Frankfurt/Main, Frankfurt/Main 1975, o. S. [S. 13]. Wilhelm Stekel (1868–1940) spielte eine wichtige Rolle in der frühen Geschichte der Psychoanalyse.
  3. Dieter Ronte, „Selbstbildnisse als Aufforderung“, in: M.J.M Ringel. Selbstporträts, Wien 1986, o. S.
  4. Peter Gorsen, „Versuch über die Mutterleibsikone oder Die bedrohlichen Musen des Franz Ringel“, in: Franz Ringel, 1975, S. 14–43, hier S. 41.
  5. Ebd., S. 17.
  6. Vgl. Peter Gorsen Peter, „Reiseabenteuer zwischen Eros und Tod. Ringels Arbeiten von 1980–1990“, in: M.J.M Ringel. Arbeiten auf Papier, 1991, S. 65–80, hier S. 67.
  7. Otto Breicha, „Von Anfang und seit jeher“, in: M.J.M Ringel. Arbeiten auf Papier, 1991, S. 53–56, hier S. 53.
  8. http://de.wikipedia.org/wiki/Wirklichkeiten, abgerufen am 18.11.2014.
  9. Otto Breicha, „Die Gruppe, die keine gewesen ist“, in: ders. (Hg.), Wirklichkeiten. Aspekte einer Gruppierung, Wien 1988, S. 9.

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