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Hans Arp, Composition mit fünf Formen , 1964

Farbli­tho­gra­fie auf Papier

Die Kunst aber soll zur Geis­tig­keit, zur Wirk­lich­keit füh­ren. Die­se Wirk­lich­keit ist weder die objek­ti­ve Wirk­lich­keit oder Rea­li­tät, noch die sub­jek­ti­ve, gedank­li­che Wirk­lich­keit, das heißt Idea­li­tät, son­dern eine mys­ti­sche Wirk­lich­keit.“1Die Kon­tu­ren der amö­ben­haf­ten Gebil­de in Hans Arps Farbli­tho­gra­fie Com­po­si­ti­on mit fünf For­men flot­tie­ren frei auf dem ocker­far­be­nen Bild­grund. Sie schei­nen sich zuein­an­der zu ver­hal­ten wie orga­ni­sche Mikro­struk­tu­ren. Kei­ne plas­ti­schen Vor- oder Rück­sprün­ge sind in der Kom­po­si­ti­on erkenn­bar; als Flä­chen­for­men ken­nen die ein­zel­nen Seh­din­ge nur das Oben und Unten als Ort der Hand­lung. Die Kom­po­si­ti­on ist daher zwei­di­men­sio­nal angelegt.

Die meis­te Auf­merk­sam­keit nimmt das mit­tel­blaue Farb­ge­bil­de in der obe­ren Bild­hälf­te ein. Gleich einem Magne­ten scheint es als größ­te Flä­chen­form die klei­ne­ren leben­di­gen Farbin­seln an sich zu zie­hen. Drei die­ser klei­ne­ren For­men sind schwarz und durch ihre ein­heit­li­che Farb­ge­stal­tung zu einer Drei­er­grup­pe anein­an­der­ge­bun­den. Die größ­te schwar­ze Insel führt ein blau­es Anhäng­sel im Schlepp­tau mit sich. Die­ses Blau steht in leb­haf­ter Kon­kur­renz zum anders­ge­ar­te­ten Blau der größ­ten Amö­be. Das Betrach­ter­au­ge ver­gleicht unwei­ger­lich die ähn­li­chen, aber nicht iden­ten Farb­tö­ne mit­ein­an­der. Es glei­tet sak­ka­disch von einem Blau zum ande­ren und wie­der zurück, ohne zu einem befrie­di­gen­den Ergeb­nis im Sin­ne eines Aus­gleichs zu fin­den. Die grö­ße­re blaue Farb­flä­che obsiegt schluss­end­lich: Auf ihr ruht der Fokus des Betrach­ters am längs­ten. Alle klei­ne­ren Farb­for­men steu­ern dyna­misch auf die mit­tel­blaue gro­ße Farb­flä­che zu. Vier Form­ge­bil­de wei­sen nur ganz wenig Abstand zuein­an­der auf: Sie sto­ßen bei­na­he zusam­men. Was wird als nächs­tes pas­sie­ren? Wer­den sie inein­an­der auf­ge­hen und ein neu­es Bio­morph erzeugen?


Hans Arps Flä­chen­for­men bau­en eine dyna­mi­sche Span­nung zuein­an­der auf. Sie sind ein­deu­tig abs­trakt, obwohl sie orga­nisch anmu­ten­de Züge tra­gen. Sie spie­len mit Kräf­te­kon­stel­la­tio­nen, mit Farb- und Form­ver­span­nun­gen und erin­nern uns an etwas, das wir jedoch nicht exakt ver­ba­li­sie­ren kön­nen. Der Begriff der Kom­po­si­ti­on wur­de auch von Arps Künst­ler­kol­le­gen Was­si­ly Kan­din­sky häu­fig ver­wen­det. Zum Œuvre des rus­si­schen Avant­gar­de­künst­lers gehö­ren die aller­ers­ten rein abs­trak­ten Bild­wer­ke. Als ers­tes abs­trak­tes Werk gilt ein Aqua­rell Kan­din­skys aus dem Jahr 1913. In sei­nen Wer­ken geht es auch um Syn­äs­the­sie, um das Hören von Far­ben und das Sehen von Tönen. Dunk­le Far­ben tönen tie­fer als helle.

Aber auch die Kennt­nis der gou­aches décou­pées von Hen­ri Matis­se ste­cken in Arps 1964 ent­stan­de­ner Gra­fik. Dafür wer­den For­men aus Papier aus­ge­schnit­ten und als Col­la­ge auf einem neu­en gemein­sa­men Bild­trä­ger befes­tigt. Das Prin­zip der Col­la­ge geht auf den Kubis­mus Braques und Picas­sos im ers­ten Jahr­zehnt des 20. Jahr­hun­derts zurück. Die Col­la­ge führt durch die neue Kon­tex­tua­li­sie­rung unter­schied­li­cher Bild­frag­men­te zur abso­lu­ten Flä­chig­keit der Kom­po­si­ti­on. Die­se Rück­bin­dung in die Flä­che lässt einen Anflug von illu­sio­nis­ti­scher Inter­pre­ta­ti­on erst gar nicht auf­kom­men. Die Kom­po­si­ti­on bleibt, was sie ist: hoch­gra­dig arti­fi­zi­ell, Far­be auf Papier. Nicht mehr und nicht weniger.

In Zusam­men­ar­beit mit sei­ner Frau Sophie Tae­u­ber-Arp schuf Arp in den dada­is­ti­schen Jah­ren (ab 1916) vor­wie­gend Papier­col­la­gen, Tusche­zeich­nun­gen und Holz­schnit­te für Dada-Publi­ka­tio­nen. Hans Arp war aber als Künst­ler auch noch in ande­ren Tech­ni­ken tätig: Er ver­fass­te Gedich­te, schuf Reli­efar­bei­ten, Plas­ti­ken und Skulp­tu­ren. Bereits in sei­nen abs­trak­ten Holz­re­li­efs von 1916 fin­den sich die wich­tigs­ten künst­le­ri­schen Ele­men­te: freie For­men in kon­struk­ti­ver Balan­ce. Auch in der vor­lie­gen­den Gra­fik geht es um das Aus­ta­rie­ren des Bild­gleich­ge­wichts, also um das Zusam­men­füh­ren von ver­schie­de­nen unter­schied­lich ver­an­lag­ten Seh­din­gen zu einem har­mo­ni­ka­len Entwurf.


Der deut­sche Schrift­stel­ler Fritz Usin­ger schrieb in einem bereits 1966 publi­zier­ten Kata­log­text über Hans Arp: Die klas­si­sche Ord­nung ist eine Ord­nung in der Bezie­hung des Ichs zur Welt. Dar­um han­delt es sich bei Arp nicht mehr. Sein Pro­blem ist die Iden­ti­tät des Nicht-Ich. Der Dada­is­mus, den Arp begrün­den half, bedeu­te­te die Auf­he­bung der Iden­ti­tät ohne die Auf­he­bung des Geis­tes.“2Das vor­lie­gen­de Blatt stammt aus dem Spät­werk des Künst­lers. Es darf als Suk­kus sei­nes künst­le­ri­schen Schaf­fens gese­hen wer­den. In ihm reka­pi­tu­liert Hans Arp aus einem Abstand von meh­re­ren Jahr­zehn­ten den von ihm mit­be­grün­de­ten Dada­is­mus und den Sur­rea­lis­mus. Sei­ne Kom­po­si­ti­on erin­nert an bio­mor­phe Struk­tu­ren, ohne jedoch rea­le Seh­be­fun­de abzu­bil­den. Ein The­ma wird allu­diert, so wie der Ton einer Sai­te anklingt und sich im Raum aus­dehnt. Es ent­steht eine Reso­nanz, die sogar bis in den Bereich der Bild­be­trach­te­rIn­nen vor­dringt. Arp ruft mit sei­ner Gra­fik ein vages Erin­ne­rungs­bild in uns her­vor, das indi­vi­du­ell ganz ver­schie­den sein kann.

Der Diri­gent einer inne­ren Musik, der gro­ße Bild­ner der Stein­zeit, zeich­ne­te mit nach innen gerich­te­ten Augen. Die Zeich­nung wird dadurch trans­pa­rent und läßt die Über­la­ge­rung, die Erre­gung, die Wie­der­ho­lung des inne­ren Gesan­ges, die Umschrei­bung zu einem tie­fen Atmen wer­den.“3

Dada­is­mus

Dada: 1916 in Zürich ent­stan­de­nes Zufalls­wort, im Kon­text des von Bal­la, Tza­ra u.a. gegrün­de­ten Caba­ret Vol­taire. Nom de guer­re‘ einer inter­na­tio­na­len künst­le­ri­schen Revol­te­be­we­gung, die, geschockt durch den Welt­krieg, den Ratio­na­lis­mus und die Kul­tur des 19. Jh. und der bis­he­ri­gen Kunst in Fra­ge stell­te. Vor­stu­fen ab 1914 (Zürich, New York), seit 1917 rasch ver­brei­tet durch regen Aus­tausch unter den wich­tigs­ten Zen­tren: Zürich (1914−18), New York (1915−21), Bar­ce­lo­na (1916−20), Ber­lin (1917−22), Köln (1919−22), Paris (1917−22). Trotz gemein­sa­mer Ver­wei­ge­rungs­hal­tung erga­ben sich unter­schied­li­che Stra­te­gien und Hal­tun­gen: The­ma­ti­sier­ten in New York Mar­cel Duch­amp und Man Ray mit Rea­dy­m­a­de, Objekt und Foto­gra­fie bzw. Pica­bia mit Wer­ken, die die Mecha­ni­sie­rung der Kunst-Welt beton­ten, die Kri­se des Mime­ti­schen, so äußer­te sich in Zürich die Ableh­nung ästhe­ti­scher Regeln, den Zufall nut­zend, in simul­ta­ner Klangas­so­zia­ti­on von Laut­ge­dicht und Geräusch­kon­zert auf Soi­réen bzw. in den mon­tier­ten Holz­re­li­efs Arps. Tza­ra und Pica­bia reg­ten Dada Paris an, aus dem der Sur­rea­lis­mus um Bre­ton her­vor­ging. […]“4

Kon­kre­te Kunst

Seit Mit­te der 20er Jah­re ver­wen­de­ter Begriff für eine Kunst­hal­tung, die sich in stren­ger Abgren­zung zur abs­trak­ten Kunst defi­niert. Bezeich­net eine anti­fi­gu­ra­ti­ve und gegen­stands­lo­se Male­rei; aber statt sub­jek­tiv-emo­tio­nal, spi­ri­tu­ell und irra­tio­nal auf­ge­la­de­ner, frei­er und zufäl­li­ger For­men steht hier ein völ­lig ratio­na­les, objek­tiv-kon­trol­lier­tes, wis­sen­schaft­li­ches und oft mathe­ma­ti­sches Ver­fah­ren der Bil­d­er­zeu­gung im Vor­der­grund. Linie, Far­be, geo­me­tri­sche Form und Ober­flä­chen­struk­tur wer­den nicht als abs­tra­hie­ren­de Zei­chen zur bild­haf­ten Wie­der­ga­be einer Natur­emp­fin­dung gebraucht, son­dern sind kon­kre­te Mit­tel zur Her­stel­lung genau durch­dach­ter und kon­stru­ier­ter Bil­der. Die­se sind daher rein visu­el­le Struk­tu­ren einer vor­ge­ge­be­nen Logik und nicht als Aus­druck sub­jek­ti­ver Gefüh­le zu begrei­fen. Der Begriff ist nicht auf jede Art geo­me­tri­scher Abs­trak­ti­on anwend­bar.“5

Bio­gra­fie

1886:

gebo­ren in Straß­burg (FR)

1904 – 1907:

Stu­di­um an der Aka­de­mie in Weimar

1908:

Fort­set­zung des Stu­di­ums an der Aca­dé­mie Juli­an in Paris

1909:

Über­sied­lung in die Schweiz

1911:

Mit­glied der Maler­grup­pe Der Moder­ne Bund. Bekannt­schaft mit Kan­din­sky und Ver­bin­dun­gen zum Blau­en Reiter

1912

Teil­nah­me an der 2. Aus­stel­lung des Blau­en Reiters

1913:

Mit­ar­beit bei der von Her­warth Wal­den her­aus­ge­ge­be­nen expres­sio­nis­ti­schen Zeit­schrift Der Sturm

1916:

Mit­in­itia­tor der Dada-Bewe­gung in Zürich

1918:

Dada­is­ti­sches Mani­fest in Berlin

1920:

Teil­nah­me an der ers­ten inter­na­tio­na­len Dada-Messe

1922:

Hei­rat mit Sophie Tae­u­ber in Pura (Tes­sin). Teil­nah­me am Kon­gress pro­gres­si­ver Künst­ler in Düs­sel­dorf und am Kon­struk­ti­vis­ten­tref­fen in Weimar

1923:

enge Zusam­men­ar­beit mit Kurt Schwitters

1924:

Über­sied­lung nach Paris. Begeg­nung mit Piet Mon­dri­an. Betei­li­gung an den ers­ten Aus­stel­lun­gen der Surrealisten

1931 – 1934:

Mit­glied von De Sti­jl, Cer­cle et Car­ré und Abstraction-Création

1932:

Beginn der Epo­che der papiers déchi­rés (Papier­reiß­ar­bei­ten). Ers­te Begeg­nung mit Mar­gue­ri­te Hagenbach

1940:

Flucht mit Sophie Tae­u­ber-Arp nach Gras­se in Südfrankreich

1942:

Emi­gra­ti­on in die Schweiz

1943:

Tod von Sophie Taeuber-Arp

1945:

Rück­kehr nach Paris

1949:

ers­te Rei­se in die USA

1950:

Wand­re­li­ef in der Har­vard University

1953:

Monu­men­tal­skulp­tur für die Uni­ver­si­tät von Caracas

1954:

Gro­ßer Preis für Plas­tik der Bien­na­le di Venezia

1955 und 1964:

Teil­nah­me an der docu­men­ta in Kassel

1957:

Monu­men­tal­re­li­ef im UNESCO-Gebäu­de in Paris

1959:

Hei­rat mit Mar­gue­ri­te Hagenbach

1959 – 1960:

Aus­stel­lung im Rah­men der Aus­stel­lung Éco­le de Paris – 80 Maler der Éco­le de Paris, 1900 – 1959 in der Neu­en Gale­rie der Stadt Linz

1963:

Grand Prix Natio­nal des Arts, Paris

1965:

Aus­stel­lung in der Neu­en Gale­rie der Stadt Linz im Rah­men der Aus­stel­lung Dada bis heute

1966:

Gro­ßes Ver­dienst­kreuz mit Stern des Ver­dienst­or­dens der Bun­des­re­pu­blik Deutschland

1966:

gestor­ben in Basel

1977:

Grün­dung des Ver­eins Stif­tung Hans Arp und Sophie Tae­u­ber-Arp in Rolands­eck bei Bonn

1979:

Grün­dung der Fon­da­ti­on Arp in Cla­mart bei Paris

1995:

Eröff­nung des Arp Muse­ums Bahn­hof Rolands­eck bei Bonn

2007:

Eröff­nung des Muse­ums­neu­baus von Richard Mei­er am Bahn­hof Rolands­eck bei Bonn

2012:

Publi­ka­ti­on einer Bestands­auf­nah­me aller Skulp­tu­ren von Hans Arp durch die Stif­tung Hans Arp und Sophie Taeuber-Arp

2013:

Über­sied­lung des Sit­zes der Stif­tung von Rema­gen-Rolands­eck nach Berlin

Pro­ve­ni­enz

Die Gra­fik wur­de 1965 im Schwei­zer Ver­lag / Gale­rie Nig­gli in Teu­fen erwor­ben.

Lite­ra­tur

Hans Arp, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, Würt­tem­ber­gi­scher Kunst­ver­ein Stutt­gart, Stutt­gart 1966.

Hans Arp. Reli­efs, Skulp­tu­ren, Bil­der, Col­la­gen, Zeich­nun­gen, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, Erker-Gale­rie St. Gal­len, St. Gal­len 1986.

Mela­nie Dank­bar (Hg.), Hans Arp. Ovi Bim­ba, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, Gale­rie Hau­ser & Wirth Zürich, Zürich 2012.

  1. Hans Arp, „Wirklichkeit“, in: ders., On my way. Poetry and Essays 1912–1947, New York 1948, o.S.
  2. Fritz Usinger, „Einführung“, in: Hans Arp, Ausstellungskatalog, Württembergischer Kunstverein Stuttgart, Stuttgart 1966, o. S.
  3. Hans Arp. Reliefs, Skulpturen, Bilder, Collagen, Zeichnungen, Ausstellungskatalog, Erker-Galerie St. Gallen, St. Gallen 1986, S. 16.
  4. Prestel-Lexikon. Kunst und Künstler im 20. Jahrhundert, München – London – New York 1999, S. 89.
  5. Prestel-Lexikon. Kunst und Künstler im 20. Jahrhundert 1999, S. 188f.

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