Seltener Wind aus Osten, ein kühler, klarer Herbstmorgen, die Verlegung des Fluchtpunktes in die linke Bildhälfte, das gegenüberliegende Ufer parallel zur Horizontalen – Technik, Zeitpunkt und Wetterlage der Aufnahme sind geschickt gewählt. Die Untersicht der Brücke zieht die Betrachter*innen magisch in die menschenleere Szenerie hinein. Während Farbfilter dafür sorgen, dass der Himmel tiefdunkel und der Dampf schneeweiß erscheint, lässt die lange Belichtungszeit das Wasser förmlich gefrieren.
„Das Bild stand in den 1970er Jahren für Aufbruch, Wirtschaftswunder und Stolz auf das Geleistete. In den späteren Jahren kommen die Ölpreiskrise, Umwelt und die Grenzen des Wachstums hinzu“, erklärt Benjamin Heidersberger, der Sohn des Künstlers und Geschäftsführer des Instituts Heidersberger in Wolfsburg, das ca. 130.000 Bilder des Künstlers aufbewahrt. Heuer feiert die markante Bildikone ihren fünfzigsten Geburtstag. Abzüge davon sind weltweit in privaten und institutionellen Sammlungen zu finden. In mehreren Veranstaltungen wird das Foto im Institut Heinrich Heidersberger in Wolfsburg sowie in einigen Partnerinstitutionen aus unterschiedlichen Perspektiven in den Blick genommen.
Als Heinrich Heidersberger das berühmte Foto im November 1971 schoss, konnte er nicht wissen, dass es dereinst seinen Erfolg als Architekturfotograf begründen würde. Das Schwarz-Weiß-Bild repräsentierte damals noch einen Musterbetrieb, der als Aushängeschild der Wolfsburger galt. Die auf dem Foto sichtbare Brücke – sie wurde später abgerissen – führte über den Mittellandkanal, der Hannover mit Berlin verbindet. In der Aufnahme steuert die Stahlbrücke noch auf den Industriebetrieb zu und schafft durch ihre gewagte Verkürzung eine kühne Dynamik, die futuristisch wirkt und vor dem mächtigen Riegel des Fabrikgebäudes jäh zum Stillstand kommt. Aufsteigende Rauchgebilde verhüllen Teile der streng gegliederten Tektonik und verleihen der Komposition etwas Schwebendes, Fragiles, Momentanes, als könnten die weißen Schwaden die behäbige Baumasse kurzerhand in Nichts auflösen.
Fünfzig Jahre nach dem Foto ist der Dieselmotor kaum noch gesellschaftsfähig. Durch den Dieselskandal geriet die Volkswagen AG bereits vor sechs Jahren in Misskredit. Die große Misere schwappte nach und nach auf die ganze Automobilbranche über und legte im Zuge dessen auch eklatante Mängel des Rechtsstaates offen. Schadenersatzansprüche Tausender Kläger sind noch immer offen. Doch der Schaden ist viel größer: „Völlig auf der Strecke bleiben Gesundheit und Umwelt. 34.000 Tonnen Stickstoff jagen alle manipulierten Diesler zusätzlich in Österreich in die Luft – jährlich.“1 Das öffentliche Interesse richtet sich nun verstärkt auf andere Antriebsformen wie die Elektromobilität. Das geniale Foto selbst wird dazu beitragen, dass wir uns in weiteren fünfzig Jahren noch dunkel erinnern werden: … aber etwas Gravierendes stimmte nicht mit diesem Betrieb, den Heidersberger schon ehedem in geheimnisvolle Nebel hüllte.
Provenienz
Die Fotografie wurde im Juni 1987 direkt vom Künstler erworben.
Biografie
Heinrich Heidersberger wurde 1906 in Ingolstadt geboren. Nach dem Tod des Vaters zog die Familie 1911 nach Linz zu den Eltern der Mutter. Heinrich trat der Bewegung der Wandervögel bei. Er begann sich für Naturwissenschaften zu interessieren und züchtete begeistert Kakteen.
Wegen der schwierigen Versorgungslage wurde er zwischen 1918 und 1925 als „Wienerkind“ in den Sommermonaten nach Dänemark geschickt. 1925 machte er sein Abitur in Linz. Nach einem halbjährigen Praktikum in der Transformatorenfirma Koch & Sterzel in Dresden arbeitete der junge Mann in der Baufirma Kremeyer in Linz als Maurerpraktikant und schrieb sich 1927 zum Architekturstudium in Graz ein. Seine künstlerische Karriere begann er als Maler und wurde Mitglied des Linzer Künstlervereins MAERZ.
Gemeinsam mit seinem Schulfreund Eduard Zak ging er 1928 nach Paris, dem Zentrum des Surrealismus. Er besuchte die Malschule von Fernand Léger und widmete sich verstärkt der Fotografie. 1931 kehrte er nach Linz zurück, wo er mit Franz Pühringer, Eduard Zak und Gretl Burgasser die „Thermopylen“, ein literarisches Kabarett, gründete. Im selben Jahr ging er nach Den Haag und lernte dort seine zukünftige Frau Cornelia Botter kennen.
Nach einem Zwischenaufenthalt in Kopenhagen zog Heidersberger 1936 nach Berlin, wo er als freier Bildjournalist für den Verlag Ullstein und Scherl arbeitete. 1937 schoss er Fotos vom Heinkel-Flugzeugwerk in Oranienburg. Die berühmte Fotoserie verhalf ihm zur Berufung als Leiter der Bildstelle eines Stahlwerks in Salzgitter-Lebenstedt. 1938 erschien das Buch Ein deutsches Flugzeugwerk mit seinen Fotografien. Nach dem Einmarsch der Amerikaner in Braunschweig im Jahr 1944 fotografierte Heidersberger für die Reportage Morgentau Schafe vor dem dortigen Stahlwerk. Nach dem Krieg arbeitete er als Dolmetscher und Porträtist britischer Soldaten.
In den 1950er-Jahren war er Bildjournalist bei stern und Merian. Durch die Bekanntschaft mit den Architekten der späteren Braunschweiger Schule (Friedrich Wilhelm Kraemer, Dieter Oesterlen und Walter Henn) betätigte er sich verstärkt als Architekturfotograf. 1955 erhielt er einen Auftrag für ein Wandbild in der Ingenieurschule in Wolfenbüttel. Auf der Suche nach einer Verbindung zwischen den Motiven für die einzelnen Fachbereiche entstanden Heidersbergers erste Rhythmogramme.
Der Fotopionier experimentierte hierzu mit einem Apparat, mit dessen Hilfe er Lichtspuren direkt auf Fotomaterial aufzeichnen konnte. Die abstrakten Fotos weisen eine Nähe zu Informel und Konstruktivismus auf. Bereits 1962 und 1967 sowie erneut 1986 zeigte die Neue Galerie der Stadt Linz, die Vorgängerinstitution des Lentos Kunstmuseums, Ausstellungen von Heinrich Heidersberger, da der damals schon renommierte Fotograf seine Jugendjahre in Linz verbracht hatte. 1984 beteiligte er sich an der Ausstellung Image et Imaginaires d’Architecture im Centre Pompidou in Paris.
Zu den zahlreichen Ehrungen des Künstlers zählen das Verdienstkreuz am Band des Landes Niedersachsen, die Silberne Plakette der Stadt Wolfsburg sowie die Ehrenbürgerschaft der Stadt Wolfsburg, die ihm drei Jahre vor seinem Tod verliehen wurde. Heinrich Heidersberger starb hochbetagt 2006 in Wolfsburg, wo er seit 1961 lebte.
- Lydia Ninz, „Dieselskandal legt erschreckende Lücken offen“, in: Der Standard,27. 9. 2021, S. 23, https://www.derstandard.at/story/2000129944700/dieselskandal-legterschreckende-luecken-offen, abgerufen am 24. 10. 2021.