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Honoré Daumier, Paris L’Hiver – Au Bal de l’Opéra, Le Charivari , 14. Jänner 1845

Litho­gra­fie auf Zei­tungs­pa­pier, 36,1 x 25,5 cm (21,9 x 17,7 cm)

Hono­ré Dau­miers Litho­gra­fie zeigt ein Ehe­paar, das von einem Ball in der Pari­ser Oper zurück­ge­kehrt ist. Mon­sieur im Frack beklagt sich, dass er den Abend mehr oder weni­ger allein zubrin­gen muss­te. Woher hat ihm der Pos­til­lon sei­ne Frau zurückgebracht?


Ein ele­gant geklei­de­ter Herr sitzt mit ver­schränk­ten Armen auf einem Stuhl. Der Zylin­der ist ihm tief ins Gesicht gerutscht, aus dem eine über­gro­ße Faschings­na­se keck her­vor­sticht. Mit sei­ner Frau Ade­lai­de ist Mon­sieur von einem Ball in der Oper zurück­ge­kehrt, aber glück­lich ist er nicht. Er streckt sei­ne müden Bei­ne aus und klagt: Ich ver­lie­re dich inmit­ten der Men­schen­men­ge und nach zwei Stun­den töd­li­cher Unge­wiss­heit sehe ich dich mit einem Pos­til­lon von Lon­ju­meau zurück­kom­men.“ Er setzt noch nach, er wer­de nicht ein­schla­fen, ehe Ade­lai­de ihm ver­ra­te, woher der Pos­til­lon sie gebracht hat­te. Das Bild an der Wand hin­ter ihm zeigt eine Tur­nier­sze­ne. Die trau­te bür­ger­li­che Zwei­sam­keit als Kampf­platz? Ein Ehe­dra­ma? Eine Eifersuchtsszene?

Sehen wir uns an, wel­che Bewandt­nis es mit den Eigen­na­men hat, mit dem Pos­til­lon von Lon­ju­meau, mit Ade­lai­de. Viel­leicht ergibt sich aus ihnen ein zusätz­li­cher Zugang zu dem Blatt.

1836 fand in Paris die Urauf­füh­rung der komi­schen Oper Le Pos­til­lon de Lon­ju­meau von Adol­phe Adam statt. Dar­in ver­lässt der namens­ge­ben­de Prot­ago­nist sei­ne Frau noch vor der Hoch­zeits­nacht: Der Inten­dant der könig­li­chen Oper hat ihm eine Kar­rie­re als Tenor in Aus­sicht gestellt. Nach Jah­ren begeg­net sich das Paar wie­der. St. Phar, wie sich der Star­te­nor mitt­ler­wei­le nennt, erkennt Made­lei­ne nicht wie­der, ver­liebt sich in sie und hei­ra­tet sie – und wird der Biga­mie beschul­digt. Made­lei­ne ret­tet ihren Ehe­mann in letz­ter Minu­te vor der Hin­rich­tung, indem sie alles auf­löst: Es kann kein Ver­bre­chen sein, zwei­mal die­sel­be Frau zu heiraten.

Ade­lai­de: Als im Jahr 1830 der letz­te Bour­bo­nen­kö­nig vom Volk ver­trie­ben wur­de, kam der Her­zog von Orlé­ans, Lou­is-Phil­ip­pe, als Bür­ger­kö­nig an die Macht. Sein Vater, Lou­is Phil­ip­pe Joseph d’Orléans, nahm wäh­rend der Revo­lu­ti­on den Namen Phil­ip­pe Éga­li­té an und stimm­te, obwohl mit Lud­wig XVI. eng ver­wandt, für des­sen Hin­rich­tung. Sei­ne Mut­ter war Loui­se Marie Adé­lai­de de Bour­bon. Als Veuve Éga­li­té, Wit­we Gleich­heit, wie sie nach dem Tod ihres Man­nes titu­liert wur­de, einer­seits und ande­rer­seits als Königs­mut­ter ver­kör­pert sie die Wider­sprü­che und die Läh­mung der dama­li­gen fran­zö­si­schen Gesellschaft.

In der Juli-Mon­ar­chie herrscht Win­ter, wie der Titel des Blat­tes uns zu ver­ste­hen gibt, und die »Furcht, die Kata­stro­phe von 1793 kön­ne sich wie­der­ho­len. … Der mit unzu­rei­chen­den Mit­teln unter­nom­me­ne Ver­such der bour­bo­ni­schen Regie­rung, end­gül­tig über­hol­te und durch die Ereig­nis­se längst ver­ur­teil­te Zustän­de wie­der her­zu­stel­len, schafft in den offi­zi­el­len und füh­ren­den Krei­sen ihrer Anhän­ger eine Atmo­sphä­re … von Unfrei­heit und Gezwun­gen­heit.«1 Was hier über den Zustand der fran­zö­si­schen Gesell­schaft um 1830 gesagt wird, gilt noch mehr für die Zeit danach, die eigent­li­che Zeit Dau­miers. Woher der Pos­til­lon Ade­lai­de abge­holt haben soll, könn­te sie wahr­schein­lich selbst nicht sagen. Paris L’hiver – Au bal de l’Opéra hat also einen – für Dau­mier typi­schen – poli­ti­schen Subtext.

1830 begann Hono­ré Dau­mier sei­ne Tätig­keit für die sati­ri­sche Zeit­schrift La Cari­ca­tu­re. Die über­aus belieb­te Illus­trier­te muss­te aller­dings nach weni­gen Jah­ren ein­ge­stellt wer­den, da sie zu zeit­kri­tisch war. Wegen sei­ner bis­si­gen Zeich­nun­gen, die in La Cari­ca­tu­re bei­gelegt waren, muss­te Dau­mier ins Gefängnis.

Die 1832 gegrün­de­te Nach­fol­ge­zeit­schrift Le Cha­ri­va­ri [Kat­zen­jam­mer], aus der auch das Blatt Au bal de l’Opéra stammt, brach­te 60 Jah­re lang jeden Tag eine Zeich­nung. Dau­mier wur­de zum bevor­zug­ten Kari­ka­tu­ris­ten die­ser Zeit­schrift. Da es nun vor­der­grün­dig nicht mehr um den König, son­dern in ers­ter Linie um sei­ne Unter­ta­nen ging, geriet der gesell­schafts­kri­ti­sche Zeich­ner nicht mehr in Kon­flikt mit der Zen­sur­be­hör­de. Dau­mier stell­te die Pari­ser Bour­geoi­sie bei der Arbeit, beim Fla­nie­ren durch die Stadt, im Thea­ter, beim Baden oder auf dem Lan­de dar.

Der Œuvre­ka­ta­log Dau­miers ent­hält ins­ge­samt 4000 Litho­gra­fien. Als er für Le Cha­ri­va­ri arbei­te­te, brach­te ihm ein Trä­ger ein­mal wöchent­lich fünf prä­pa­rier­te Stei­ne. Da schnell pro­du­ziert wer­den muss­te, zeich­ne­te der Künst­ler zumeist ohne Vor­stu­di­en direkt auf den Stein. Dau­miers sati­ri­sche Arbei­ten zeu­gen von fei­ner Beob­ach­tungs­ga­be und einer vir­tuo­sen Umset­zung. Der rea­lis­ti­sche Künst­ler wur­de zum bedeu­ten­den Weg­be­rei­ter des Impressionismus.

Rea­lis­mus

Der Rea­lis­mus ist eine Dar­stel­lungs­wei­se, die sich gegen idea­li­sie­ren­de Ten­den­zen rich­tet. Er ent­wi­ckel­te sich zwi­schen 1830 und 1870 fast über­all in Euro­pa und Nord­ame­ri­ka. Nach dem Revo­lu­ti­ons­jahr 1848 wur­de er von einer Unter­strö­mung zur brei­ten inter­na­tio­na­len Bewe­gung. Rea­lis­mus bedeu­tet eine Ver­knap­pung oder sogar Kon­struk­ti­on von Wirk­lich­keit mit dem Ziel, die Wahr­neh­mung von Rea­li­tät zu ver­tie­fen oder hin­ter der sicht­ba­ren eine unsicht­ba­re Wirk­lich­keit zu ent­hül­len. Vie­le rea­lis­ti­sche Künst­ler befür­wor­te­ten libe­ra­le und demo­kra­ti­sche Ideen und woll­ten ihrer Kunst eine gesell­schaft­li­che Funk­ti­on geben. Der Rea­lis­mus tritt im Ver­lauf der Kunst­ge­schich­te, v.a. im 20. Jahr­hun­dert, mehr­fach auf.

Litho­gra­fie

Der Stein­druck ist die grund­le­gen­de und meist ver­brei­te­te Art des Flach­drucks. Sie steht der Zeich­nung auf Papier am nächs­ten. Das Prin­zip der Litho­gra­fie beruht in den che­mi­schen Fähig­kei­ten des fein­kör­ni­gen kal­zi­um-kar­bo­na­t­hal­ti­gen Steins. Die­ser nimmt die Fet­tig­keit der Zeich­nung an. Wenn sei­ne Ober­flä­che mit Ätz­flüs­sig­keit prä­pa­riert ist, kann er die­se Eigen­schaft dau­er­haft bewah­ren. Wo sich kei­ne Zeich­nung befin­det, stößt der ange­feuch­te­te Stein die fet­ti­ge Far­be beim Druck ab, so dass nur die vom Künst­ler ange­brach­te Zeich­nung Far­be auf­nimmt.2 Die­se Tech­nik, von Aloys Sene­fel­der im den neun­zi­ger Jah­ren des 18. Jahr­hun­derts ent­deckt, wur­de in Frank­reich bereits zu Beginn des 19. Jahr­hun­derts ver­wen­det. Doch erst ab 1816 konn­te sich der Stein­druck dank der Dru­cke­rei­en von Charles de Las­tey­rie in Paris und von Gode­froy Engel­mann in Mül­hau­sen und Paris end­gül­tig durch­set­zen.3 Zu den Vätern der künst­le­ri­schen Litho­gra­fie zäh­len Géri­cault, Ing­res, Del­a­croix, Goya und der jun­ge Hono­ré Daumier.

Bio­gra­fie

Hono­ré Dau­mier wur­de 1808 in Mar­seil­le gebo­ren. Die Fami­lie über­sie­del­te 1815 in die fran­zö­si­sche Metro­po­le, wo der Vater die Fami­lie mehr schlecht als recht ernäh­ren konn­te. Bereits als 13jähriger ver­dien­te Hono­ré Dau­mier sein ers­tes Geld als Lauf­bur­sche bei einem Gerichts­die­ner. Spä­ter wur­de er Hilfs­kraft bei einem Buch­händ­ler. Dort hat­te er Gele­gen­heit, die Pari­ser Bour­geoi­sie ein­ge­hend zu beob­ach­ten. Nach einem kur­zen Stu­di­um an der Aca­dé­mie Suis­se ent­stan­den bereits 1822 die ers­ten Lithografien.


1830 zeich­ne­te der Künst­ler die ers­ten Kari­ka­tu­ren gegen den Bür­ger­kö­nig Lou­is-Phil­ip­pe. 1831 kam es in Lyon zu einem Weber­auf­stand. Gar­gan­tua, ein Blatt, in dem Dau­mier, in Anleh­nung an Rabel­ais, Lou­is-Phil­ip­pe als Gold ver­schlin­gen­des und Edik­te und besto­che­ne Volks­ver­tre­ter kacken­des Mons­ter dar­stellt, trug ihm sechs Mona­te Gefäng­nis ein, die er zum Teil in einer Abtei­lung für Geis­tes­kran­ke ver­brin­gen muss­te. 1832 wur­de er erneut ver­haf­tet. Ab 1835 arbei­te­te Dau­mier für Le Cha­ri­va­ri. 1836 wid­me­te er sich auf­grund der stren­gen Zen­sur vor­wie­gend der Gesell­schafts- und Sit­ten­ka­ri­ka­tur. 1846 Hei­rat mit Marie-Alex­an­dri­ne d’Assy. Umzug auf die Île Saint Lou­is hin­ter Not­re Dame. Hier mach­te Dau­mier Bekannt­schaft mit den Malern Corot, Del­a­croix und Cour­bet und den Pro­pa­gan­dis­ten des Rea­lis­mus, Champf­leu­ry und Duranty.


1848 Febru­ar-Revo­lu­ti­on: Abdan­kung Lou­is-Phil­ip­pes. Zwei­te Repu­blik: 1848 – 1852. Dau­mier nahm an einem Wett­be­werb für eine alle­go­ri­sche Figur der Repu­blik teil. 1852 wur­de Lou­is Napo­lé­on als Napo­lé­on III. Kai­ser von Frank­reich. 1858 schwe­re Erkran­kung Dau­miers. 1860 Ent­las­sung beim Cha­ri­va­ri, finan­zi­el­le Schwie­rig­kei­ten, zahl­rei­che Gemäl­de ent­ste­hen. 1863 wur­de Dau­mier bei Cha­ri­va­ri wie­der ein­ge­stellt. 1865 ver­öf­fent­lich­te Champf­leu­ry sein Buch His­toire de la cari­ca­tu­re moder­ne, das zum Groß­teil Dau­mier gewid­met war.


Zwi­schen 1866 und 1872 ent­stan­den etwa 500 poli­ti­sche Kari­ka­tu­ren, in denen Dau­mier vor Krieg warnt und die Hoff­nun­gen aus­drückt, die er auf die Repu­blik setzt. 1870 lehn­te Dau­mier das Kreuz der Ehren­le­gi­on ab. Deutsch-Fran­zö­si­scher Krieg. Ende des Kai­ser­reichs und 3. Repu­blik. 1872 wird Dau­miers Seh­kraft schwä­cher. In die­sem Jahr ent­stan­den die letz­ten Litho­gra­fien des Künst­lers. 1878 gro­ße Retro­spek­ti­ve in der Gale­rie Durand-Ruel in Paris. 1879 starb Hono­ré am 10. Febru­ar in Val­mondois. Sein Grab befin­det sich auf dem Pari­ser Fried­hof Père Lachai­se.4

Pro­ve­ni­enz

Die Litho­gra­fie wur­de 1990 in einem Züri­cher Anti­qua­ri­at erwor­ben.

Lite­ra­tur­hin­wei­se

Albrecht, Juerg: Hono­ré Dau­mier mit Selbst­zeug­nis­sen und Bild­do­ku­men­ten. (Rororo-Mono­gra­fie Nr. 326). Rein­bek bei Ham­burg 1984

Auer­bach, Erich: Mime­sis. Tübin­gen und Basel 1946

Kre­j­ca, Aleš: Die Tech­ni­ken der gra­phi­schen Kunst. Hand­buch der Arbeits­vor­gän­ge und der Geschich­te der Ori­gi­nal-Druck­gra­phik. Prag 1980. 

  1. Auerbach, Erich: Mimesis. Tübingen und Basel 1946, S. 423.
  2. Krejca, Aleš: Die Techniken der graphischen Kunst. Handbuch der Arbeitsvorgänge und der Geschichte der Original-Druckgraphik, S. 141f.
  3. Vgl. Albrecht, Jürg: Daumier, S. 12.
  4. Die Biografie wurde größtenteils der Monografie: Honoré Daumier mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten von Juerg Albrecht entnommen (siehe Literaturhinweise).

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