Grafit auf Papier, 34×50cm, Erworben 1953
„Die Gegend ist herrlich: Bäume, wie man sie schwerlich anderswo findet, aber alles zu parkmäßig ordentlich, so daß sich schwer ein Motiv zu einem Bilde findet. Heute bin ich von 7 – 10 Uhr bei großer Hitze umhergelaufen, ohne etwas für meine Mappe erhascht zu haben.“1
Die vorliegende Studie zeigt einen See, umgeben von dichten Bäumen und Büschen. Dahinter verbirgt sich ein Gehöft mit mehreren Gebäuden. Ein Mann durchquert das Anwesen. Der Weg führt über eine Brücke zu einem Weiler. Selbst die feinsten Spiegelungen sind auf der Oberfläche des Wassers erkennbar. Vor dem Weiler harrt ein Reiter hoch zu Pferd. Licht und Schatten verleihen der Zeichnung einen reizvollen Charme. Während das Motiv des Bauernhofs inmitten von Bäumen und Büschen sehr detailreich geschildert wird, läuft die Zeichnung im Bildvordergrund zu einer Skizze aus. Die Arbeit ist am unteren Bildrand mit „Neu Testorf 1876“ beschriftet und signiert. Am rechten Bildrand befindet sich eine weitere, diesmal exaktere Datierung: „September 1876“. Die Zeichnung entstand als Vorstudie zu dem gleichnamigen Gemälde, das sich in Privatbesitz befindet.
Louis Gurlitt war ein deutscher Landschaftsmaler. Damals war es üblich, in der freien Natur direkt vor dem Motiv eine Zeichnung aufzunehmen, die dann im Atelier als Gemälde ausgeführt wurde. Die im Bild vermerkten handschriftlichen Verweise sind Farbangaben für das Gemälde. Im Vergleich zum Gemälde zeigt die Studie allerdings ein paar grundlegende Unterschiede.
Der Reiter als Staffagefigur wurde im Gemälde vom Vordergrund in den Mittelgrund verlagert. Der Vordergrund wurde außerdem knapper angeschnitten. Der Himmel ist tiefer gezogen und mit mächtigen Wolkenformationen ausstaffiert, worin sich Gurlitts Affinität zur holländischen Malerei bemerkbar macht. In seinem Frühwerk setzte sich der virtuose Künstler mit Gemälden der holländischen Landschaftsmaler Meindert Hobbema und Jacob van Ruisdael auseinander. Schwere, dunkle Wolken kommen auch in van Ruisdaels Gemälden häufig vor.
Gurlitts Intention war es jedoch nicht, ein möglichst getreues Abbild der Natur zu schaffen. Vielmehr sollte sich das Gemälde durch künstlerische Imagination zu einer Ideallandschaft steigern. Das angestrebte Ziel war es, ein „seiner Empfindung und Seele gemäßes Naturbild zu erschaffen“.2
Das Gemälde entstand vermutlich als Auftragswerk eines reichen Gutsbesitzers. Noch drei Monate zuvor, am 27. Juni 1876, schrieb Gurlitt an seine Tochter: „Ich werde nicht lange in Holstein bleiben. Auf Geschäfte scheint sehr wenig Aussicht bei der allgemeinen Klage über Geldmangel. Bei Fremden zu Gast zu sein, hat auf die Dauer etwas ungemein Drückendes. Das einsame Wirtshausleben aber halte ich bei der Kirchenstille, die hier im östlichen Holstein herrscht, vor Langeweile nicht aus, zumal mir meine Kräfte nicht mehr gestatten, den ganzen Tag Studien zu machen.“3 Doch die Situation verbesserte sich im August, als er „die herzlichste Aufnahme“4 bei Graf Holstein auf Waterneversdorf fand und seine Bilder bewundert wurden. Von Waterneversdorf aus machte Gurlitt Ausflüge nach Stöfs und Testorf, wo die vorliegende Skizze entstand.
Gurlitt war, als er die Zeichnung anfertigte, 62 Jahre alt und bereits über die Landesgrenzen hinaus bekannt. Und doch hatte er damals seinen künstlerischen Zenit bereits überschritten. Jüngere, modernere Maler wie Andreas und Oswald Achenbach und Max Liebermann hatten ihm den Rang abgelaufen. Der ungarische Maler Mihály Munkácsy schuf allseits bewunderte realistische Genrebilder. Lászlo Paál war ein Verehrer der Schule von Barbizon.
1855 war Gurlitt selbst auf der Pariser Weltausstellung in Kontakt mit der französischen Freiluftmalerei (Pleinair-Malerei) der Schule von Barbizon gekommen. Der deutsche Maler war mit seinen Freiluftstudien, für die er die Strapazen vieler Reisen auf sich nahm, selbst ein Wegbereiter der Freiluftmalerei. Seine Gemälde entstanden aber ausschließlich im Atelier.
In Frankreich hingegen verlor die Trennung zwischen der im Freien angefertigten Skizze und der Komposition im Atelier an Bedeutung. Theodore Rousseau malte auch im Herbst und Winter im Freien. Charles-François Daubigny vollendete vermutlich als erster Maler großformatige Gemälde in der Natur.
Voller Verdruss sagte Gurlitt über die französische Pleinair-Malerei: „Ich für meine Person würde glauben, in einem fort Entschuldigungen über die Schmiererei machen zu müssen, wenn mich jemand beim Malen eines solchen Bildes im Atelier überraschte. Aber es ist nicht zu leugnen, sieht man die Bilder aus gewissem Abstand, so kommt durch das Zusammenstellen der verschiedenen, nahebei oft sehr unharmonischen Töne, in dem Hin- und Herschmieren der Farben eine Wirkung heraus, so lebendig, wie die deutschen Bilder sie nicht haben.“5 Den Übergang zu einer freieren, mehr auf malerische Tendenzen ausgerichteten Malerei konnte Gurlitt selbst nicht mehr vollziehen. Diese künstlerische Freiheit, die durch die Einführung der Fotografie ermöglicht wurde, stellte in seinen Augen keinen Fortschritt dar.
So kam es, dass seine Pleinair-Zeichnungen in seinen späten Tagen mehr geschätzt wurden als seine Gemälde. Selbst Andreas Achenbach, ein Malerkollege und Freund aus früheren Tagen, der nun eine Professur für Landschaftsmalerei an der Düsseldorfer Akademie innehatte, bat Gurlitt für die Studiensammlung der Institution nicht um Gemälde, sondern um einige Studien aus seiner Frühzeit.
Gurlitt freute sich zwar darüber, sparte aber nicht mit Kritik an der neuerdings praktizierten Landschaftsmalerei: „Meine Zeichnungen nach der Natur machen hier bei allen die mich besuchen, das größte Aufsehen, und immer muß ich hören, daß sie noch nie so strenge und mit so vielem Verständnis gezeichnete Studien gesehen haben. Aber wie Andreas Achenbach sagte: ‚man kann nicht zweien Herren dienen‘, so mag es sein – und wie die neue Richtung ganz von der Farbe ausgeht und die Zeichnung vernachlässigt, so gehe ich von der Zeichnung aus, und bleibe in der Farbe zurück, und doch kann ich nur auf meinem Wege Erfolg hoffen, und vielleicht erlebe ich es noch, daß die Landschaftsmaler auch wieder zeichnen lernen müssen, was sie größtenteils gar nicht können, und sich wieder an Bäume machen, die hier fast gar nicht mehr gemalt werden.“6
Die idealisierte Landschaft, deren Abbildung Gurlitt meisterhaft beherrschte, war nicht mehr erwünscht. Eine malerischere Darstellungsweise, die auf optischen Effekten basierte und nichts verklärte, wurde bevorzugt. Dies kam den neuen Sehgewohnheiten zusehends entgegen. Gurlitts Zeichnungen sind dichter an der Realität als seine Gemälde, da sie direkt vor dem Motiv entstanden sind. Sie vermitteln daher den Eindruck des unmittelbar Erlebten und Gesehenen. Durch ihre reichen Licht-Schatten-Modulationen können sie den Reiz des einzigartigen dargestellten Augenblicks – ähnlich wie impressionistische Zeichnungen – nicht verleugnen. Das ist es, was auch Achenbach und seine Kollegen sehr schätzten. Gurlitts Zeichnungen sind impressionistischer, als es der Künstler beabsichtigte. Seine Zeichnungen waren damit – wider seine eigene Kunstauffassung – gefragt. Auch heute finden sich immer mehr Bewunderer einer solch minutiösen Zeichenkunst, wie Gurlitt sie pflegte. Was heute daran fasziniert, ist der Charakter der Zeichnung als Dokument und als Konzept. Es ist der hohe Grad an Ursprünglichkeit und Authentizität, die in jedem Strich der Zeichnung spürbar wird.
Provenienz
Die Zeichnung wurde 1953 von Wolfgang Gurlitt, dem Enkel des Künstlers, in die Grafiksammlung der damaligen Neuen Galerie der Stadt Linz eingebracht.
Biografie
1812:
geboren am 8. März als Sohn des Golddrahtziehers Johann August Wilhelm und seiner zweiten Frau Christine Helene in Altona (damals noch zu Dänemark gehörend)
1828 – 1832:
Lehrzeit bei Siegfried Bendixen, dem Leiter der Hamburger Malschule. Ausbildung zum künstlerischen Maler und Dekorationsmaler
1832:
Aufnahme an der Kopenhagener Kunstakademie. Die Akademieausbildung war für Gurlitt wenig ergiebig, da sie fast nur in Zeichnen bestand. Erste Norwegenreise
1835:
zweite Norwegenreise. Zahlreiche Wanderungen und Zeichnungen nach der Natur. Nach seiner Rückkehr mit reicher künstlerischer Ausbeute verwendet der Künstler seine vielen Studien für Gemälde. Seine akademische Ausbildung sieht er als abgeschlossen an
1836:
Gurlitt verlässt Kopenhagen und besucht Gut Rothenhausen in der Nähe von Lübeck. Weiterreise über Altona und Hamburg nach München. In München schließt er sich dem Kreis um den Maler Christian Morgenstern an. Erste Studienreise an den Chiemsee und weiter nach Berchtesgaden, an den Königssee und nach Salzburg. Nach der Rückkehr nach München Annäherung an die von Leopold Rottmann angeführte ideale Kunstrichtung
1837:
Heirat mit Elise Saxild in Kopenhagen. Übersiedlung nach München
1838:
Reise nach Oberitalien (Bozen – Meran – Gardasee)
1839:
Entstehung vieler Gemälde mit Motiven vom Gardasee. Tod von Elise, anschließend Reise nach Kopenhagen, wo ihm der dänische Kronprinz und spätere König Christian VIII. Zugang zu adeligen und wohlhabenden Förderern seiner Kunst verschafft
1840:
Aufnahme in die Kopenhagener Akademie. Seine Gemälde mit dänischen Landschaften sorgen in Kopenhagen für Furore
1841:
Ausstellung auf Schloss Charlottenburg
1843:
Übersiedlung nach Düsseldorf. Im April Besuch durch den dänischen Märchendichter Hans Christian Andersen. Aufnahme in den Künstlerkreis um Andreas Achenbach
1843:
Heirat mit der 20-jährigen Julie Bürger. Reise an den Golf von Neapel und nach Rom
1844:
Geburt des Sohnes Wilhelm. Tod Julie Gurlitts an den Folgen des Typhus in Rom. Der kleine Wilhelm kommt zunächst zu Pflegeeltern in die Schweiz. Im Herbst sind Gurlitt und Achenbach in Genazzano, Ariccia und am Nemisee zum Malen. Bekanntschaft mit dem deutschen Dichter Friedrich Hebbel
1845:
Mitgründung des deutschen Künstlervereins in Rom
1846:
Übersiedlung nach Berlin
1847:
Heirat mit Else Lewald, der jüngeren Schwester der Schriftstellerin Fanny Lewald
1849 – 1851:
Nach den Unruhen des Jahres 1848 Umzug nach Nischwitz bei Wurzen (Sachsen). Gurlitt malt dort italienische Landschaften, mit denen er Ausstellungen in Berlin, Prag, Dresden und London beschickt
1851 – 1854:
Übersiedlung nach Wien nach Anregung des dort lebenden Dichters Hebbel. Hoffnungen auf eine Professorenstelle an der Wiener Kunstakademie. Ausstellungen im Kunstverein, wo er viele italienische Landschaftsbilder verkauft. Zahlreiche Reisen nach Dalmatien, Ungarn, Italien und Griechenland, um zu neuen Motiven zu kommen. Die Schifffahrtsgesellschaft Der Österreichische Lloyd in Triest lässt 30 bis 40 Reisezeichnungen Gurlitts als Stahlstiche vervielfältigen
1853:
Reise nach Ungarn mit geringer künstlerischer Ausbeute. Herausgabe einer „Zeichen-Schule“ mit Tafeln zu Pflanzen, Bäumen, Gebäuden und Landschaftskompositionen, um seine Chancen auf die Verleihung einer Professorenstelle an einer Kunstschule zu erhöhen
1854 – 1855:
Reise nach Flottbek bei Hamburg, Helgoland und Kopenhagen. Übernahme der Präsidentschaft des Hamburger Kunstvereins
1855:
Besuch der Weltausstellung in Paris. Von Marseille aus Weiterreise nach Neapel und Rom
1858:
Gurlitt erhält vom Bankier Simon Sina den Auftrag, vier große griechische Landschaftsporträts für dessen neues Stadtpalais zu schaffen. Reise für Studienzwecke nach Griechenland. Gurlitt zeichnet die Akropolis in Athen und reist auch nach Delphi und Theben
1859:
Umzug nach Gotha, wo ihm der Herzog von Coburg-Gotha eine Villa in Siebleben zur Verfügung stellt
1863:
Gurlitt ist in Holstein unterwegs und zeichnet auf Gütern adeliger Großgrundbesitzer
1864:
Einmarsch preußischer und österreichischer Truppen in Holstein, Sturm auf die Düppeler Schanzen. Gurlitt zeichnet auf den ehemaligen Kriegsschauplätzen
1866:
Reise nach Hamburg und Schleswig-Holstein
1867 – 1868:
Reisen nach Portugal und Spanien mit Sohn Wilhelm
1869:
Ankunft in Wien, wo er mit namhaften Persönlichkeiten aus Adel und Wissenschaft zusammentrifft. Nach drei Wochen hat er viele Landschaftsbilder aus Spanien und Portugal verkauft
1873:
Übersiedlung nach Dresden
1877/78:
Letzte Reise nach Rom
1880:
Umzug nach Plauen bei Dresden
1884:
Gurlitt gibt das Malen auf, da Augen und Hände ermüdet sind
1888:
Umzug nach Berlin-Steglitz
1897:
gestorben am 19. September in seinem Sommersitz in Naundorf bei Schmiedeberg im Erzgebirge
Verwendete Literatur
Ulrich Schulte-Wülver, Bärbel Hedinger (Hg.), Louis Gurlitt 1812 – 1897. Porträts europäischer Landschaften in Gemälden und Zeichnungen, Ausstellungskatalog, Altonaer Museum, Hamburg, Museumsberg Flensburg, Flensburg, u. a. München 1997.
- Ludwig Gurlitt, Louis Gurlitt. Ein Künstlerleben des 19. Jahrhunderts, dargestellt von seinem Sohn Ludwig Gurlitt, Berlin 1912, S. 465.
- Cornelius Gurlitt an seine Eltern, Hirschholm 27.5.1842.
- Gurlitt 1912, S. 465.
- Else Gurlitt an ihre Tochter, Dresden 29.9.1876, Familiennachlass.
- Louis Gurlitt an seinen Sohn Wilhelm. Düsseldorf 22. 12. 1871, Familiennachlass.
- Louis Gurlitt an seinen Sohn Wilhelm, Düsseldorf 22.12.1871, Familiennachlass; zit. nach: Ulrich Schulte-Wülwer, Bärbel Hedinger (Hg.), Louis Gurlitt (1812–1897). Porträts europäischer Landschaften in Gemälden und Zeichnungen, Ausstellungskatalog, Altonaer Museum, Hamburg, Museumsberg Flensburg, Flensburg, u. a., München 1997, S. 133.