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Lyonel Feininger, The Gate , 4. September 1912

Radie­rung auf Papier, 41,9 x 31,9 cm

[…] Pom­mern und die Ost­see, das war ein­mal: weiß ich das auch so genau, denn sie waren für mein gan­zes Schaf­fen mit­be­stim­mend, und ich zeh­re noch jetzt an den Erleb­nis­sen, die ich dort hat­te: Hier gibt es nichts, was damit zu ver­glei­chen wäre …“1

In The Gate hielt Fei­nin­ger das Ros­to­cker Tor in Rib­nitz-Dam­gar­ten an der Ost­see fest. Es gilt als eines der ältes­ten2 erhal­te­nen Stadt­to­re Meck­len­burg-Vor­pom­merns. Das Back­stein­tor ent­stand in sei­ner heu­ti­gen Form um 1430. Vor dem Tor führt eine Brü­cke über den Klos­ter­gra­ben. Tor und Gra­ben soll­ten die Stadt gegen Wes­ten hin vor Angrif­fen schüt­zen. Der Künst­ler sah das Tor erst­mals 1905 bei einem sei­ner Som­mer­auf­ent­hal­te an der Ost­see. Er nann­te die Klein­stadt Rib­nitz Mär­chen­stadt […] in mär­chen­haf­ter wei­ter Fer­ne“3 . Im glei­chen Jahr ver­wen­de­te Fei­nin­ger das Motiv bereits für die Kari­ka­tur Der Rat­ten­fän­ger von Eng­land in einer Aus­ga­be der Lus­ti­gen Blät­ter4.

Eine 1911 ent­stan­de­ne Tusch­fe­der­zeich­nung mit dem­sel­ben Titel (heu­te im Art Insti­tu­te Chi­ca­go) dien­te als Vor­la­ge für die Radie­rung. Obwohl aus druck­tech­ni­schen Grün­den spie­gel­ver­kehrt dar­ge­stellt, stim­men alle bild­li­chen Details mit der Zeich­nung über­ein. Im Ver­gleich zur Feder­zeich­nung wähl­te der Künst­ler noch kräf­ti­ge­re Hell-Dun­kel-Kon­tras­te. Er ver­lieh dem Stadt­tor eine bei­na­he mons­trö­se Monu­men­ta­li­tät, indem er es dicht an den obe­ren Bild­rand ansto­ßen und die Men­schen auf der Brü­cke und im Stadt­gra­ben win­zig klein erschei­nen ließ.

Fei­nin­ger ver­ein­te in The Gate expres­sio­nis­ti­sche und kubis­ti­sche For­men. Es kam ihm dar­auf an, das Gese­he­ne umzu­for­men und zu crystal­li­sie­ren“5 , um den Aus­druck zu stei­gern. Selbst das Rund der Son­ne scheint unre­gel­mä­ßig gebro­chen zu sein. In einem Brief an sei­ne künf­ti­ge Ehe­frau Julia schrieb er: Mir schwe­ben schon ganz ande­re Leucht- und Ton­wer­te, ande­re Über­set­zungs­mög­lich­kei­ten als bis­her vor. Aber es ist fast unmög­lich, von der gewohn­ten Wirk­lich­keit abzu­ge­hen. Das Gese­he­ne muß inner­lich umge­formt und crystal­li­siert wer­den.“6

The Gate mar­kiert eine ent­schei­den­de Wen­de in Fei­nin­gers Schaf­fen. Erst­mals tritt die Archi­tek­tur domi­nant in den Vor­der­grund und die mensch­li­che Figur wird zur Staf­fa­ge redu­ziert7. Dass das Ros­to­cker Tor einen nach­hal­ti­gen Ein­fluss auf den Künst­ler aus­üb­te, beweist die Tat­sa­che, dass er die­ses Sujet ein paar Jah­re spä­ter (1918 – 1921) noch­mals zwei Holz­schnit­ten und einer aqua­rel­lier­ten Tusch­fe­der­zeich­nung zugrun­de leg­te.

Das Rib­nit­zer Stadt­tor war für den Künst­ler mehr als nur Archi­tek­tur. Er lös­te es aus sei­nem indi­vi­du­el­len Kon­text und über­höh­te es ideell. Fei­nin­ger sah die Gotik als Ide­al­bild einer uni­ver­sa­len Geis­tes­kul­tur gegen die moder­ne Indus­trie­ge­sell­schaft und den Kunst­be­trieb des Kai­ser­reichs“8.

Radie­rung

In der Mit­te des 18. Jahr­hun­derts wur­den neue Ver­fah­ren für die Ver­viel­fäl­ti­gung von zeich­ne­ri­schen Vor­la­gen und des Ätzens ent­wi­ckelt, wobei die getön­te Radie­rung ent­stand. Die Tech­nik der Strich­ra­die­rung beruht in der Aus­füh­rung der Zeich­nung mit­tels einer Gra­vier­na­del in die Schicht des schüt­zen­den Ätz­grun­des, mit der die Metall­plat­te ver­se­hen ist. Durch das Ein­wir­ken des Ätz­mit­tels wird die Zeich­nung dann an der Stel­le des bloß­ge­leg­ten Metalls in die Tie­fe geätzt. Im Gegen­satz zum Kup­fer­stich hör­te die Radie­rung nie auf, gra­fisch arbei­ten­de Künst­ler ver­schie­de­ner Genera­tio­nen in ihren Bann zu zie­hen. Zu ihnen gehör­ten Wil­liam Hogarth, Jean-Fran­çois Mil­let, Édouard Manet, James Whist­ler, Pablo Picas­so und weitere.

Kubis­mus

Eine um 1907 in Paris ent­wi­ckel­te Stil­rich­tung der moder­nen Kunst, deren Dar­stel­lungs­ver­fah­ren in Male­rei und Skulp­tur Geor­ges Braque und Pablo Picas­so nach einer Pha­se inten­si­ver Zusam­men­ar­beit etwa gleich­zei­tig fan­den. Der Kubis­mus voll­zog zu Beginn des 20. Jahr­hun­derts den radi­ka­len Bruch mit einer der wesent­li­chen Errun­gen­schaf­ten, die die Maler wäh­rend der Renais­sance ent­wi­ckelt hat­ten: der zen­tral­per­spek­ti­vi­schen Dar­stel­lung. Hat­ten Fau­vis­mus und Expres­sio­nis­mus die Far­be befreit, galt das Inter­es­se der Kubis­ten der Form.

Pablo Picas­so gab in sei­nem kubis­ti­schen Haupt­werk Les Demoi­sel­les d’Avignon (1907) die räum­li­che Illu­si­on auf und ver­zahn­te die ver­zerr­ten Kör­per­for­men im Raum. Zer­leg­te der ana­ly­ti­sche Kubis­mus die drei­di­men­sio­na­len For­men auf der Bild­flä­che, so setz­te der syn­the­ti­sche Kubis­mus die Gegen­stands­for­men auch mit­tels der neu ent­deck­ten Col­la­ge­tech­nik auf der Bild­flä­che zusam­men. Jene Gestal­tungs­prin­zi­pi­en, mit denen Geor­ges Braque, Pablo Picas­so und Juan Gris an Paul Cézan­nes Rück­füh­rung der Natur auf geo­me­tri­sche For­men anknüpf­ten, ermög­lich­ten die künst­le­ri­sche Erschaf­fung einer Bild­rea­li­tät, die nicht mehr blo­ße Nach­ah­mung der Natur war.

Bio­gra­fie

1871:

Léo­nell Charles Fei­nin­ger wird am 17. Juli in New York gebo­ren. Sein Vater Charles (Karl) ist Vio­lin­spie­ler, sei­ne Mut­ter Eli­sa­beth Ceci­lia Pia­nis­tin und Sängerin

1887:

fährt im Novem­ber nach Ham­burg und lebt von nun an bis 1936 in Deutsch­land. Sei­ne Eltern, die ihn eigent­lich zum Musi­ker bestimmt haben, erlau­ben ein Stu­di­um an der Kunst­ge­wer­be­schu­le in Hamburg

1888:

fährt nach Ber­lin und beginnt für Ver­le­ger und Zeit­schrif­ten zu arbei­ten. Besteht die Auf­nah­me­prü­fung an der dor­ti­gen König­li­chen Aka­de­mie der bil­den­den Künste

1892/93:

Auf­ent­halt in Paris, arbei­tet im Ate­lier Cola­ros­si9. Im Mai Rück­kehr nach Berlin

1894:

ver­lässt die Ber­li­ner Aka­de­mie. Ers­te Zeich­nun­gen für Harper’s Young Peop­le und Harper’s Round Table

1895 – 1914:

fes­te Anstel­lung bei Ulk, der humo­ris­ti­schen Wochen­bei­la­ge des Ber­li­ner Tageblatts


1897 – 1917:

Zeich­nun­gen für die Zeit­schrif­ten Lus­ti­ge Blät­ter und Narrenschiff

1901:

Hei­rat mit der Pia­nis­tin Cla­ra Fürst, Geburt der Toch­ter Lore

1902:

Geburt der zwei­ten Toch­ter Marianne

1903:

stellt Zeich­nun­gen auf der 8. Aus­stel­lung der Ber­li­ner Seces­si­on aus

1905:

lernt Julia Berg, geb. Lili­en­feld, ken­nen; Tren­nung von Clara

1906:

ers­te Litho­gra­fien und Radie­run­gen. In Ber­lin Ver­trag mit der Chi­ca­go Sunday Tri­bu­ne; löst Ver­trag mit Lus­ti­ge Blät­ter. Fährt im Juli nach Paris, wo er erneut im Ate­lier Cola­ros­si arbei­tet. Lernt den Künst­ler­kreis um Matis­se ken­nen, trifft Robert Delau­nay. Nach der Rück­kehr Grün­dung eines Ate­liers in Wei­mar. Ers­te Litho­gra­fien und Radie­run­gen ent­ste­hen. Geburt des Soh­nes Andreas

1907:

Fei­nin­ger beginnt zu malen. Im Okto­ber in Paris, wo er Bil­der von van Gogh und Cézan­ne bei Bern­heim Jeu­ne sieht

1908:

Hei­rat mit Julia Berg

1910:

stellt bei der Ber­li­ner Seces­si­on erst­mals ein Gemäl­de aus und been­det die Kari­ka­tur­ar­bei­ten für sati­ri­sche Zeit­schrif­ten. Bil­der vom Herings­dor­fer Strand. Im Sep­tem­ber hält er sich in Nep­per­min auf der Insel Use­dom auf. Geburt des Soh­nes Theo­dor Lux

1911:

wäh­rend eines Auf­ent­hal­tes in Paris ers­te Begeg­nung mit den Kubisten

1912:

lernt die Maler der Brü­cke ken­nen. Freund­schaft mit Alfred Kubin, Erich Heckel und Karl Schmidt-Rottluff. Ers­te archi­tek­to­ni­sche Entwürfe

1913:

erkun­det die Thü­rin­ger Dör­fer, u. a. Tröbs­dorf, Pos­sen­dorf, Ump­fer­stedt und Zot­tel­stedt. Ein­la­dung von Franz Marc, mit dem Blau­en Rei­ter im Ers­ten Deut­schen Herbst­sa­lon in der Gale­rie Der Sturm in Ber­lin auszustellen

1919:

Grün­dung des Bau­hau­ses in Wei­mar, Fei­nin­ger wird Meis­ter der Form­leh­re in der Druckwerkstatt

1920:

Auf­ent­hal­te in Thü­rin­gen und Erfurt, wo er die Dör­fer zeichnet

1924:

grün­det zusam­men mit Klee, Jaw­len­sky und Kan­din­sky die Aus­stel­lungs­ge­mein­schaft Die Blau­en Vier

1926:

Über­sied­lung nach Des­sau. Fei­nin­ger ist Meis­ter am Bau­haus ohne Lehrverpflichtung

1933:

Nach der Schlie­ßung des Bau­hau­ses in Des­sau 1932 Rück­kehr nach Berlin

1936:

im Rah­men der Akti­on Ent­ar­te­te Kunst wer­den 378 sei­ner Wer­ke aus deut­schen Muse­en ent­fernt. Rei­se in die USA und Ent­schluss, Deutsch­land zu verlassen

1937:

emi­griert nach New York, wo er bis zu sei­nem Lebens­en­de lebt

1940:

die ers­ten Man­hat­tan-Bil­der entstehen

1944:

ers­te gro­ße Retro­spek­ti­ve in New York. Trifft Mark Tobey und Fer­nand Léger

1945:

hält einen Som­mer­kurs am Black Moun­tain Col­le­ge, North Carolina

1950:

Ent­wurf eines Wand­bil­des für den Pas­sa­gier­damp­fer Constitution

1956:

stirbt am 13. Janu­ar in New York

Pro­ve­ni­enz

Die Radie­rung wur­de 1986 aus Wie­ner Pri­vat­be­sitz erworben.

Ver­wen­de­te Literatur

Uwe Schnee­de, Götz Adria­ni (Hg.), Lyo­nel Fei­nin­ger. Die Zeich­nun­gen und Aqua­rel­le, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, Ham­bur­ger Kunst­hal­le, Kunst­hal­le Tübin­gen, Ham­burg 1998.

Wer­ner Timm (Hg.), Lyo­nel Fei­nin­ger. Erleb­nis und Visi­on. Die Rei­sen an die Ost­see, 1892 – 1935, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, Muse­um Ost­deut­sche Gale­rie Regens­burg, Kunst­hal­le Bre­men, Regens­burg 1992.

Lyo­nel Fei­nin­ger. Ori­gi­na­le auf Papier und Druck­gra­phik aus dem Besitz des Spren­gel Muse­um Han­no­ver, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, Spren­gel Muse­um Han­no­ver, Han­no­ver 1996.

Lyo­nel Fei­nin­ger. Städ­te und Küs­ten. Aqua­rel­le, Zeich­nun­gen, Druck­gra­fik, Aus­stel­lung zum 200. Jubi­lä­um der Albrecht-Dürer-Gesell­schaft, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, Kunst­hal­le Nürn­berg, Mar­burg 1992.

  1. Brief an Jutta Freifrau von Schlieffen, New York, 30.9.1951, in: Lyonel Feininger, Ausstellungskatalog, Stiftung Pommern, Kiel 1991, S. 5, zitiert nach: Werner Timm, „Feininger und die Ostsee“, in: Lyonel Feininger. Städte und Küsten. Aquarelle, Zeichnungen, Druckgrafik, Ausstellung zum 200. Jubiläum der Albrecht-Dürer-Gesellschaft, Ausstellungskatalog, Kunsthalle Nürnberg, Marburg 1992, S. 41.
  2. Der erste Bau wurde bereits im Jahr 1290 urkundlich erwähnt.
  3. Brief an Julia Berg, 15.10.1905, in: Werner Timm (Hg.), Lyonel Feininger. Erlebnis und Vision. Die Reisen an die Ostsee. 1892–1935, Ausstellungskatalog, Museum Ostdeutsche Galerie Regensburg, Kunsthalle Bremen, Regensburg 1992, S. 41. Julia Berg und Feininger heirateten 1908, siehe Biografie.
  4. Vgl. Uwe Schneede, Götz Adriani (Hg.), Lyonel Feininger. Die Zeichnungen und Aquarelle, Ausstellungskatalog, Hamburger Kunsthalle, Kunsthalle Tübingen, Hamburg 1998, S. 209.
  5. Brief an Julia Berg, 29.8.1907, zitiert nach: Schneede, Adriani 1998, S. 68.
  6. ebd.
  7. Vgl. Ulrich Luckhardt, in: Klaus Peter Schuster (Hg.), Delaunay und Deutschland, Ausstellungskatalog, Haus der Kunst München, München 1986, zitiert nach: Timm 1992, S. 41.
  8. Magdalena Bushart, „Feininger und die Gotik“, in: Ausstellungskatalog Kunsthalle Nürnberg 1992, S. 35.
  9. Die Académie Colarossi (auch Atelier Colarossi genannt) war eine im 19. Jahrhundert von dem italienischen Bildhauer Filippo Colarossi (1841–1914) in der Rue de la Grande-Chaumière Nr. 10 im 6. Arrondissement in Paris gegründete private Kunstakademie. Sie stellte eine Alternative zur staatlichen Kunstschule École des Beaux-Arts dar, die nach Ansicht junger Künstler viel zu konservativ war. Die Schule schloss 1930.

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