Aquatintaradierung auf Büttenpapier 45,8 × 63,5 cm (40,1 × 49,6 cm) Schenkung Margit Palme, 2013
In der querformatigen Aquatintaradierung sehen wir einen auf dem Boden ruhenden Kopf einer Frau. Ein Stängel des daneben aufragenden Löwenzahns überschneidet ihren Hals. Dahinter bauschen sich Wolken auf und evozieren ein Ambiente in der freien Natur. Frauenkopf, Löwenzahnpflanze, Wolkenformationen: Sehr abrupt sind diese Motive aneinandergefügt. Ohne formale Übergänge wirkt die Komposition surreal. Die Augen der Frau sind geschlossen, sie scheint in einen Traum versunken zu sein – auch das Motiv des Träumens ist typisch surrealistisch.
Der Löwenzahn zeigt bei genauerer Betrachtung unterschiedliche Stadien seines Wachstums auf: als geschlossene Blütenknospe, erblüht als gelbe Blume, als verblühte Samenkugel und mit bereits abgefallenen Samen. Die Aquatintaradierung besteht somit aus mehreren Bildteilen, deren Zusammenhang sich nicht sofort erschließt. Durch die nahansichtige Ausschnitthaftigkeit wird die Thematik bausteinartig präsentiert ‒ auf das Wesentliche komprimiert. Die Frauengestalt repräsentiert keine individuelle Person, sondern einen Typus ‒ das Weibliche schlechthin. Mit geschlossenen Augen hat sich die Dargestellte von der vita activa zurückgezogen und scheint in sich selbst hineinzuhören. Die Pflanze neben ihr zeigt als Bild im Bild, wohin die Innenschau der Frau führt: Vier zeitliche Stadien vom Werden und Vergehen in der Natur werden nebeneinander dargestellt und lassen auf diese Weise ein Narrativ zu.
Das Bild im Bild als Metapher für die Vergänglichkeit. Als Margit Palme an dieser Aquatintaradierung arbeitete, war sie im 40. Lebensjahr. Die Komposition Der Löwenzahn der Zeit wirkt rückblickend betrachtet wie eine Zwischenbilanz ihres eigenen Lebens. Dinge verändern sich, auch der eigene Körper. Alles „[…] unterliegt der Zeit, […] was ein erscheinendes Dasein hat“,1 formulierte bereits Johann Wolfgang von Goethe in seiner Italienischen Reise. Der Löwenzahn – indem er auf die verschiedenen Zustände seiner kurzlebigen Existenz verweist – übernimmt in der Komposition die Rolle als Referenz auf die konstante Veränderung. Das LENTOS Kunstmuseum Linz verfügt über rund 570 Kunstwerke von Margit Palme. Ein Großteil davon kam als Schenkung der Künstlerin im Jahr 2013 in unseren Bestand. Die Fülle der Aquatintaradierungen erlaubt uns, Vergleiche im Schaffen der Künstlerin anzustellen und Entwicklungstendenzen in ihrem Œuvre festzumachen.
Margit Palme befasste sich in ihren vielen Aquatintaradierungen in erster Linie mit frauenspezifischen Themen. Die ersten Grafiken stammen aus den 1950er-Jahren. Damals begann die Künstlerin, in verschiedenen Versuchen die technischen Möglichkeiten dieses sehr speziellen Druckverfahrens auszuloten. Einflüsse von Matisse, Picasso und Chagall waren für ihre frühen Werke noch sehr prägend.2 Nach und nach verwendete Palme mehr Farbe für ihre Kunst. Sie arbeitete mit mehreren Farbplatten, die sie nacheinander in die Komposition integrierte. Ab dem Beginn der 1970er-Jahre festigte sich ihr Stil. Groß und klar wurde nun der weibliche Körper in das Bild gesetzt, häufig als Torso oder Porträt.
Margit Palmes Frauen sind sich dessen bewusst, dass sie betrachtet werden. Sie posieren in einem besonderen Outfit, ihr eigenes Spiegelbild betrachtend, ihren Status abfragend. Manchmal mutieren sie zur Formgelegenheit wie in der Serie Karyatiden. Frauen sind in dieser Reihe zu Metaphern des Lastens und Tragens stilisiert, womit dem surrealen Impetus im Schaffen der Künstlerin das i‑Tüpfelchen aufgesetzt wird. Immer sind die Frauen selbstbewusst, lebensbejahend und stark ‒ die Krone der Schöpfung. Margit Palme hat sich ihrer variantenreichen Darstellung rückhaltlos verschrieben. Wir gratulieren der Künstlerin auf diesem Wege zu ihrem runden Geburtstag!
Provenienz
Das Werk kam durch eine großzügige Schenkung der Künstlerin im Jahr 2013 in den Bestand des Museums.
Technik
Für eine Aquatintaradierung verwendet die Künstlerin drei bis fünf Zinkplatten. Jede Farbfläche benötigt eine eigene Platte, die zunächst poliert und entfettet wird. Den Pinsel in Zuckerwasser getaucht, wird sodann die Zeichnung aufgetragen, bevor die gesamte Fläche mit Asphaltlack abgedeckt wird. Durch das Abbürsten in warmem Wasser springt der Asphaltlack an der Lineatur der Zeichnung ab und diese wird freigelegt. Bei dem anschließenden Ätzvorgang wird die Zeichnung in die Zinkplatte vertieft und kann im Druckvorgang Farbe aufnehmen und an das Papier abgeben. Farbflächen entstehen durch Kolophoniumstaub, der auf die betreffenden Stellen aufgetragen und durch Hitzeeinwirkung aufgeschmolzen wird. Die dadurch entstehende körnige Oberflächenstruktur bildet das Grundgerüst für die Farbflächen. Margit Palme verwendet diese aufwendige Drucktechnik wegen der speziellen Widerständigkeit, die die Aquatinta ihrem Schaffensdrang entgegensetzt, und wegen der spezifischen Formensprache, die daraus resultiert.
Biografie
geb. 1939 in Amstetten
Studium an der Kunstschule der Stadt Linz bei Alfons Ortner 1962
Lithografie-Seminar bei Slavi Soucek in Salzburg
Mitglied der Künstlervereinigung MAERZ in Linz
1973 – 1999:
Lehrtätigkeit an der Meisterklasse für Textiles Gestalten der Kunsthochschule Linz, später Kunstuniversität Linz Anerkennungen
1963:
Preis der 14. Jugendkulturwoche in Innsbruck 1967: Preis des Theodor-Körner-Stiftungsfonds
1978:
Stipendium des Landes Niederösterreich
1982:
Preis des Landes Salzburg beim 18. Österreichischen Graphikwettbewerb in Innsbruck
1999:
Verleihung des Berufstitels „Universitätsprofessorin“
2009:
Heinrich-Gleißner-Preis des Landes Oberösterreich
Verwendete Literatur
Margit Palme. Aquatintas, Text: Herbert Rosendorfer, Linz o. J. (1991) Margit Palme, Text: Peter Baum, Linz o. J. (2005)
Margit Palme. Karyatiden. Aquatintas, Texte: Andrea Bina, Brigitte Reutner, Weitra o. J. (2013)
- Johann Wolfgang von Goethe, Italienische Reise. Mit vierzig Zeichnungen des Autors, Frankfurt am Main 1976, S. 93.
- Peter Baum, „Im Verharren von Bewegung. Zu den Aquatintaradierungen von Margit Palme“, in: Margit Palme, Linz o. J. (2005), S. 3-5, hier: S. 5.