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Der Löwenzahl der Zeit , 1978

Aqua­tin­tara­die­rung auf Büt­ten­pa­pier 45,8 × 63,5 cm (40,1 × 49,6 cm) Schen­kung Mar­git Pal­me, 2013

In der quer­for­ma­ti­gen Aqua­tin­tara­die­rung sehen wir einen auf dem Boden ruhen­den Kopf einer Frau. Ein Stän­gel des dane­ben auf­ra­gen­den Löwen­zahns über­schnei­det ihren Hals. Dahin­ter bau­schen sich Wol­ken auf und evo­zie­ren ein Ambi­en­te in der frei­en Natur. Frau­en­kopf, Löwen­zahn­pflan­ze, Wol­ken­for­ma­tio­nen: Sehr abrupt sind die­se Moti­ve anein­an­der­ge­fügt. Ohne for­ma­le Über­gän­ge wirkt die Kom­po­si­ti­on sur­re­al. Die Augen der Frau sind geschlos­sen, sie scheint in einen Traum ver­sun­ken zu sein – auch das Motiv des Träu­mens ist typisch surrealistisch. 

Der Löwen­zahn zeigt bei genaue­rer Betrach­tung unter­schied­li­che Sta­di­en sei­nes Wachs­tums auf: als geschlos­se­ne Blü­ten­knos­pe, erblüht als gel­be Blu­me, als ver­blüh­te Samen­ku­gel und mit bereits abge­fal­le­nen Samen. Die Aqua­tin­tara­die­rung besteht somit aus meh­re­ren Bild­tei­len, deren Zusam­men­hang sich nicht sofort erschließt. Durch die nahan­sich­ti­ge Aus­schnitt­haf­tig­keit wird die The­ma­tik bau­stein­ar­tig prä­sen­tiert ‒ auf das Wesent­li­che kom­pri­miert. Die Frau­en­gestalt reprä­sen­tiert kei­ne indi­vi­du­el­le Per­son, son­dern einen Typus ‒ das Weib­li­che schlecht­hin. Mit geschlos­se­nen Augen hat sich die Dar­ge­stell­te von der vita acti­va zurück­ge­zo­gen und scheint in sich selbst hin­ein­zu­hö­ren. Die Pflan­ze neben ihr zeigt als Bild im Bild, wohin die Innen­schau der Frau führt: Vier zeit­li­che Sta­di­en vom Wer­den und Ver­ge­hen in der Natur wer­den neben­ein­an­der dar­ge­stellt und las­sen auf die­se Wei­se ein Nar­ra­tiv zu. 


Das Bild im Bild als Meta­pher für die Ver­gäng­lich­keit. Als Mar­git Pal­me an die­ser Aqua­tin­tara­die­rung arbei­te­te, war sie im 40. Lebens­jahr. Die Kom­po­si­ti­on Der Löwen­zahn der Zeit wirkt rück­bli­ckend betrach­tet wie eine Zwi­schen­bi­lanz ihres eige­nen Lebens. Din­ge ver­än­dern sich, auch der eige­ne Kör­per. Alles „[…] unter­liegt der Zeit, […] was ein erschei­nen­des Dasein hat“,1 for­mu­lier­te bereits Johann Wolf­gang von Goe­the in sei­ner Ita­lie­ni­schen Rei­se. Der Löwen­zahn – indem er auf die ver­schie­de­nen Zustän­de sei­ner kurz­le­bi­gen Exis­tenz ver­weist – über­nimmt in der Kom­po­si­ti­on die Rol­le als Refe­renz auf die kon­stan­te Ver­än­de­rung. Das LENTOS Kunst­mu­se­um Linz ver­fügt über rund 570 Kunst­wer­ke von Mar­git Pal­me. Ein Groß­teil davon kam als Schen­kung der Künst­le­rin im Jahr 2013 in unse­ren Bestand. Die Fül­le der Aqua­tin­tara­die­run­gen erlaubt uns, Ver­glei­che im Schaf­fen der Künst­le­rin anzu­stel­len und Ent­wick­lungs­ten­den­zen in ihrem Œuvre festzumachen. 


Mar­git Pal­me befass­te sich in ihren vie­len Aqua­tin­tara­die­run­gen in ers­ter Linie mit frau­en­spe­zi­fi­schen The­men. Die ers­ten Gra­fi­ken stam­men aus den 1950er-Jah­ren. Damals begann die Künst­le­rin, in ver­schie­de­nen Ver­su­chen die tech­ni­schen Mög­lich­kei­ten die­ses sehr spe­zi­el­len Druck­ver­fah­rens aus­zu­lo­ten. Ein­flüs­se von Matis­se, Picas­so und Chagall waren für ihre frü­hen Wer­ke noch sehr prä­gend.2 Nach und nach ver­wen­de­te Pal­me mehr Far­be für ihre Kunst. Sie arbei­te­te mit meh­re­ren Farb­plat­ten, die sie nach­ein­an­der in die Kom­po­si­ti­on inte­grier­te. Ab dem Beginn der 1970er-Jah­re fes­tig­te sich ihr Stil. Groß und klar wur­de nun der weib­li­che Kör­per in das Bild gesetzt, häu­fig als Tor­so oder Porträt.


Mar­git Pal­mes Frau­en sind sich des­sen bewusst, dass sie betrach­tet wer­den. Sie posie­ren in einem beson­de­ren Out­fit, ihr eige­nes Spie­gel­bild betrach­tend, ihren Sta­tus abfra­gend. Manch­mal mutie­ren sie zur Form­ge­le­gen­heit wie in der Serie Karya­ti­den. Frau­en sind in die­ser Rei­he zu Meta­phern des Las­tens und Tra­gens sti­li­siert, womit dem sur­rea­len Impe­tus im Schaf­fen der Künst­le­rin das i‑Tüpfelchen auf­ge­setzt wird. Immer sind die Frau­en selbst­be­wusst, lebens­be­ja­hend und stark ‒ die Kro­ne der Schöp­fung. Mar­git Pal­me hat sich ihrer vari­an­ten­rei­chen Dar­stel­lung rück­halt­los ver­schrie­ben. Wir gra­tu­lie­ren der Künst­le­rin auf die­sem Wege zu ihrem run­den Geburtstag! 

Pro­ve­ni­enz

Das Werk kam durch eine groß­zü­gi­ge Schen­kung der Künst­le­rin im Jahr 2013 in den Bestand des Museums. 

Tech­nik

Für eine Aqua­tin­tara­die­rung ver­wen­det die Künst­le­rin drei bis fünf Zink­plat­ten. Jede Farb­flä­che benö­tigt eine eige­ne Plat­te, die zunächst poliert und ent­fet­tet wird. Den Pin­sel in Zucker­was­ser getaucht, wird sodann die Zeich­nung auf­ge­tra­gen, bevor die gesam­te Flä­che mit Asphalt­lack abge­deckt wird. Durch das Abbürs­ten in war­mem Was­ser springt der Asphalt­lack an der Linea­tur der Zeich­nung ab und die­se wird frei­ge­legt. Bei dem anschlie­ßen­den Ätz­vor­gang wird die Zeich­nung in die Zink­plat­te ver­tieft und kann im Druck­vor­gang Far­be auf­neh­men und an das Papier abge­ben. Farb­flä­chen ent­ste­hen durch Kolo­pho­ni­um­staub, der auf die betref­fen­den Stel­len auf­ge­tra­gen und durch Hit­ze­ein­wir­kung auf­ge­schmol­zen wird. Die dadurch ent­ste­hen­de kör­ni­ge Ober­flä­chen­struk­tur bil­det das Grund­ge­rüst für die Farb­flä­chen. Mar­git Pal­me ver­wen­det die­se auf­wen­di­ge Druck­tech­nik wegen der spe­zi­el­len Wider­stän­dig­keit, die die Aqua­tin­ta ihrem Schaf­fens­drang ent­ge­gen­setzt, und wegen der spe­zi­fi­schen For­men­spra­che, die dar­aus resultiert. 

Bio­gra­fie

geb. 1939 in Amstet­ten
Stu­di­um an der Kunst­schu­le der Stadt Linz bei Alfons Ort­ner 1962

Litho­gra­fie-Semi­nar bei Sla­vi Soucek in Salzburg

Mit­glied der Künst­ler­ver­ei­ni­gung MAERZ in Linz 

1973 – 1999:

Lehr­tä­tig­keit an der Meis­ter­klas­se für Tex­ti­les Gestal­ten der Kunst­hoch­schu­le Linz, spä­ter Kunst­uni­ver­si­tät Linz Anerkennungen 

1963:

Preis der 14. Jugend­kul­tur­wo­che in Inns­bruck 1967: Preis des Theodor-Körner-Stiftungsfonds 

1978:

Sti­pen­di­um des Lan­des Niederösterreich 

1982:

Preis des Lan­des Salz­burg beim 18. Öster­rei­chi­schen Gra­phik­wett­be­werb in Innsbruck 

1999:

Ver­lei­hung des Berufs­ti­tels Uni­ver­si­täts­pro­fes­so­rin“

2009:

Hein­rich-Gleiß­ner-Preis des Lan­des Oberösterreich 


Ver­wen­de­te Literatur

Mar­git Pal­me. Aqua­tin­tas, Text: Her­bert Rosen­dor­fer, Linz o. J. (1991) Mar­git Pal­me, Text: Peter Baum, Linz o. J. (2005)

Mar­git Pal­me. Karya­ti­den. Aqua­tin­tas, Tex­te: Andrea Bina, Bri­git­te Reut­ner, Wei­tra o. J. (2013)

  1. Johann Wolfgang von Goethe, Italienische Reise. Mit vierzig Zeichnungen des Autors, Frankfurt am Main 1976, S. 93.
  2. Peter Baum, „Im Verharren von Bewegung. Zu den Aquatintaradierungen von Margit Palme“, in: Margit Palme, Linz o. J. (2005), S. 3-5, hier: S. 5.

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