Holzriss auf Japanpapier, erworben 1947
Der Holzriss zeigt eine junge Frau in seitwärts geneigter, leicht gebeugter Haltung. Langes helles Haar umfängt ihren Kopf wie ein feines Gespinst. Mit geschlossenen Augen scheint sie völlig in sich versunken zu sein, als lausche sie einer fernen Melodie.
Die in Allerleirauh dargestellte Szene bezieht sich auf ein Märchen der Gebrüder Grimm. In der gleichnamigen Geschichte geht es um einen König, der seine eigene Tochter heiraten möchte, weil er sie nach dem Ableben ihrer Mutter für die schönste Frau der Welt hält. Die Königstochter ist entsetzt. Um die Hochzeit in die ferne Zukunft schieben zu können, bedingt sie sich drei möglichst schwer erfüllbare Wünsche aus: ein Sonnenkleid, ein Mondkleid und ein Sternenkleid. Als der Vater die drei unermesslich kostbaren Kleider dennoch vorlegen kann, beschließt die beherzte junge Frau, in das benachbarte Königreich zu fliehen. Jäger spüren sie trotz ihrer tierähnlichen, pelzigen Kleidung – dem Allerleirauh – in einem Wald auf und bringen sie an den Königshof. Dort darf sie – ähnlich wie Aschenputtel – in der Küche mithelfen. Bei Festen am Königshof zieht sie nach und nach ihre drei schönen Kleider an, die sie sonst in einer Nussschale verwahrt. Der König tanzt mit ihr und ist fasziniert von ihrer Schönheit. Durch eine List entlarvt er das „Rauhtierchen“ als Königstochter und heiratet sie schließlich. Die Gebrüder Grimm beenden das Märchen mit folgender Sequenz: „Der König aber sprach: ‚Du bist meine liebe Braut, und wir scheiden nimmermehr voneinander!‘ Darauf ward die Hochzeit gefeiert, und sie lebten vergnügt bis zu ihrem Tod.“1
Der Holzriss Allerleirauh wurde im Jahr 1947 für eine der ersten Ausstellungen in der Neuen Galerie der Stadt Linz, der Vorgängerinstitution des LENTOS Kunstmuseum Linz, für die Sammlung erworben. Diese Ausstellung trug den Titel Die schöpferische Frau und fand im Brückenkopfgebäude West am Hauptplatz statt. Vilma Eckl, Ottilie Kasper, Clara Siewert und Käthe Kollwitz waren die weiteren „schöpferischen“ Frauen, deren Werke der damalige Direktor Wolfgang Gurlitt dem Linzer Publikum in der kleinen Nachkriegsgalerie präsentierte. Gurlitt betrieb überdies einen eigenen Kunstverlag und gab 1949 einen Katalog über Margret Bilger heraus. Die darin abgedruckten Textbeiträge wurden vom damaligen Direktor der Albertina, Otto Benesch, und von Monsignore Otto Mauer, der zu diesem Zeitpunkt noch Assistent der Katholischen Aktion in Wien war, verfasst. Otto Mauer berichtet über die Ausstellung in der Linzer Neuen Galerie, dass Gurlitt die Holzstöcke Bilgers „gleich gotischen Tafelbildern“2 parallel zu den Holzrissen ausstellte.
Als Margret Bilger an Allerleirauh arbeitete, war sie erst kurze Zeit in Oberösterreich. Sie nannte das von ihr bewohnte Haus in Taufkirchen an der Pram das „großmütterliche Auszugshäuschen“, das ihr „Schutz in dem Land des Zusammenstroms von Donau und Inn“3 gewährte und mit dem sie sich „verbunden mit seinen Geistern von klein auf und wie eine Pforte nach Nord und Süd, Ost und West“4 fühlte. In einem Brief vom 9. Dezember 1939 hielt sie fest: „Jetzt, wo das äußere Leben mir fast gar keine Aussicht mehr läßt, mir oft scheint, als fehle nur das Zündholz zur Reibfläche des Lebens, gerade da flammt es von selbst auf und glüht.“5Ihre künstlerische Schaffenskraft kulminierte demnach trotz der kriegsbedingten widrigen Umstände zu einem ersten Höhepunkt in der Holzrisskunst.
Allerleirauh gehört stilistisch zu dieser Werkserie. Mit dem Stichel oder einer Nadel riss die Künstlerin feine Holzstrukturen aus den Birnenholzplatten förmlich heraus. Diese Arbeitsweise ähnelt der Kaltnadeltechnik, bei der die Zeichnung ebenfalls mit spitzen Gegenständen in den Bildgrund geritzt wird. Es ergibt sich dadurch eine feinlineare Struktur, die zum Kennzeichen von Bilgers grafischen Arbeiten wurde.
Der ebenfalls im Innviertel lebende Alfred Kubin ermutigte die Künstlerin, viele Holzrisse anzufertigen. Er war in dieser Zeit ihr wichtigster Förderer und mit ihm tauschte sie sich in ihren Briefen auch über die Bezeichnung „Holzriss“ aus: „Holzrisse ist eine glückliche Eingebung“6, pflichtete ihr Kubin bei.
In den ersten Nachkriegsjahren war Margret Bilger eine der wenigen bekannten Künstlerinnen, die in Österreich tätig waren. Auch der Schiele-Experte Otto Benesch war hingerissen von ihren künstlerischen Arbeiten. Er charakterisierte das Figürliche in Bilgers Werk „als magisches Lichtgespinst aus dunklen Gründen erwachsen“7. Diese poetische Beschreibung passt vortrefflich zum Holzriss Allerleirauh. Auch Otto Mauer bewies 1949 noch große Bewunderung, als er über Bilger schrieb: „Langes und gehorsames Horchen ist diesen künstlerischen Äußerungen einer menschlichen Seele vorausgegangen.“8 Ein paar Jahre später verlagerte sich sein künstlerisches Interesse. Als er seine Galerie St. Stephan, später in Galerie nächst St. Stephan umbenannt, gründete, war Margret Bilger längst passé. Die neuen Stars hießen Arnulf Rainer, Wolfgang Hollegha, Josef Mikl, Johann Fruhmann und Markus Prachensky.
Alfred Kubin nannte die Künstlerin in seinen Briefen lange Zeit „Elbin“ und „Dryade“. Genauso mystisch und feengleich wie die Frauengestalten in ihren Holzrissen wird sie auch selbst von ihren Zeitgenossen beschrieben, in ihrem Wesen sehr feinfühlig, schwermütig. Als Meisterin des Holzrisses und unvergleichliche Glaskünstlerin gilt sie nach wie vor als bewundernswerte Pionierin.
Provenienz
Dieser Holzschnitt gilt als eine der frühesten Erwerbungen der Neuen Galerie der Stadt Linz, die im Jahr 1946 gegründet wurde.
Biografie
1904:
geboren unter dem Namen Margaretha am 12. August als zweites von drei Kindern des Historikers Ferdinand Bilger und seiner Frau Margit in Graz
1907:
die Familie zieht nach Heidelberg, wo der Vater bis 1911 am Deutschen Rechtswörterbuch arbeitet
1911:
Beginn der durch Krankheiten unterbrochenen Schullaufbahn an der evangelischen Volksschule in Graz
1920:
Bilger verlässt nach einer Herzmuskelerkrankung das Gymnasium und tritt in die Kunstgewerbeschule in Graz ein
1922:
aus Opposition zum Elternhaus, das die künstlerische Begabung der Tochter fördert und ein Kunststudium in Leipzig befürwortet, beschließt Bilger, Diakonissin zu werden
1922 – 1923:
Studium an der Kunstgewerbeschule und am Werkhaus Merz in Stuttgart
1924
nach einer Krise arbeitet Bilger als Hilfsschwester bei tuberkulösen Kindern auf der steirischen Stolzalpe
1925 – 1929:
Studium an der Wiener Kunstgewerbeschule bei Bertold Löffler
1927:
Beginn der Beschäftigung mit der Glasmalerei
1928:
Verleihung des Staatspreises für die beste Gesamtleistung an der Kunstgewerbeschule
1930:
nach Beendigung ihres Studiums arbeitet Bilger als Verkäuferin bei den Wiener Werkstätten
1933:
Heirat mit dem Flickschuster Markus Kastl. Eine Todgeburt stürzt die Künstlerin in eine schwere Krise
1935:
Entwürfe für Spielzeug, Kinderbücher und Webereien
1936:
Scheidung von Markus Kastl
1938:
Freundschaft mit Alfred Kubin. Erste Aquarellarbeiten. Übersiedlung nach Taufkirchen an der Pram, wo die Familie ein von den Großeltern ererbtes Haus besitzt
1942:
die Künstlerin signiert mit „Margret Bilger“
In den folgenden Jahren mehrere Ausstellungen in der Galerie Günther Franke in München
1945:
Vertrag mit dem Kunsthändler Wolfgang Gurlitt, dem Gründer der Neuen Galerie der Stadt Linz
1946:
Bekanntschaft mit dem Bauhausmaler Hans Joachim Breustedt
1950 – 1971:
kontinuierliche Arbeit an Glasfenstern, u. a. im Kloster Schlierbach, Wien-Heiligenstadt, Don Bosco in Wien, Salzburg-Herrnau, Linz-St. Magdalena, Stift Heiligenkreuz
1953:
Heirat mit Hans Joachim Breustedt
1954:
Verleihung der Goldenen Medaille für Glasmalerei
1960:
Verleihung des Professorentitels
1960 – 1961:
monumentale Fensteraufträge für Salzburg, Rohrbach/Stmk. und Lenzing/OÖ.
1970:
schwere Operation, von der sich die Künstlerin nicht mehr erholt
1971:
gestorben am 24. Juli in Schärding
1975:
große Gedächtnisausstellung im Kloster Schlierbach
1997/98:
umfassende Werkretrospektive in der Landesgalerie Oberösterreich. Parallel dazu Publikation über Margret Bilger, hg. v. Peter Assmann und Melchior Frommel
2010:
Ausstellung Berührungen. Begegnungen. Alfred Kubin und die Künstlerinnen Emmy Haesele, Clara Siewert und Margret Bilger im NORDICO Stadtmuseum Linz
Verwendete Literatur
Die schöpferische Frau. Margret Bilger, Vilma Eckl, Ottilie Kasper, Käthe Kollwitz, Clara Siewert, Ausstellungskatalog, Neue Galerie der Stadt Linz, Linz 1947.
Otto Mauer, Margret Bilger. Das graphische Werk, Linz o. J. [ca. 1949].
Otto Breicha, Melchior Frommel (Hg.), Margret Bilger. Holzrisse – Zeichnungen – Glasfensterarbeiten, Salzburg 1988.
- www.grimmstories.com/de/grimm_maerchen/allerleirauh (abgerufen am 18.12.2017).
- Otto Mauer, Margret Bilger. Das graphische Werk, Linz o. J. [ca. 1950], S. 7.
- Margret Bilger, zit. n.: Die schöpferische Frau. Margret Bilger, Vilma Eckl, Ottilie Kasper, Käthe Kollwitz, Clara Siewert, Ausstellungskatalog, Neue Galerie der Stadt Linz, Linz 1947, S. 7.
- Ebd.
- Zit. n.: Franz Xaver Hofer, „Das Land der Seele suchend. Die Zeichnung im Lebenswerk Margret Bilgers“, in: Otto Breicha, Melchior Frommel (Hg.), Margret Bilger. Holzrisse – Zeichnungen – Glasfensterarbeiten, Salzburg 1988, S. 131–142, hier S. 138.
- Zit. n.: Otto Breicha, „Die die Erde feierte. Margret Bilgers Holzrisse“, in: Breicha, Frommel 1988, S. 15–25, hier S. 15.
- Mauer o. J. [ca. 1950], S. 4.
- Ebd., S. 7.