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Bilger Margret, Allerleifrau , 1939

Holz­riss auf Japan­pa­pier, erwor­ben 1947

Der Holz­riss zeigt eine jun­ge Frau in seit­wärts geneig­ter, leicht gebeug­ter Hal­tung. Lan­ges hel­les Haar umfängt ihren Kopf wie ein fei­nes Gespinst. Mit geschlos­se­nen Augen scheint sie völ­lig in sich ver­sun­ken zu sein, als lau­sche sie einer fer­nen Melodie.

Die in Aller­lei­rauh dar­ge­stell­te Sze­ne bezieht sich auf ein Mär­chen der Gebrü­der Grimm. In der gleich­na­mi­gen Geschich­te geht es um einen König, der sei­ne eige­ne Toch­ter hei­ra­ten möch­te, weil er sie nach dem Able­ben ihrer Mut­ter für die schöns­te Frau der Welt hält. Die Königs­toch­ter ist ent­setzt. Um die Hoch­zeit in die fer­ne Zukunft schie­ben zu kön­nen, bedingt sie sich drei mög­lichst schwer erfüll­ba­re Wün­sche aus: ein Son­nen­kleid, ein Mond­kleid und ein Ster­nen­kleid. Als der Vater die drei uner­mess­lich kost­ba­ren Klei­der den­noch vor­le­gen kann, beschließt die beherz­te jun­ge Frau, in das benach­bar­te König­reich zu flie­hen. Jäger spü­ren sie trotz ihrer tier­ähn­li­chen, pel­zi­gen Klei­dung – dem Aller­lei­rauh – in einem Wald auf und brin­gen sie an den Königs­hof. Dort darf sie – ähn­lich wie Aschen­put­tel – in der Küche mit­hel­fen. Bei Fes­ten am Königs­hof zieht sie nach und nach ihre drei schö­nen Klei­der an, die sie sonst in einer Nuss­scha­le ver­wahrt. Der König tanzt mit ihr und ist fas­zi­niert von ihrer Schön­heit. Durch eine List ent­larvt er das Rau­h­tier­chen“ als Königs­toch­ter und hei­ra­tet sie schließ­lich. Die Gebrü­der Grimm been­den das Mär­chen mit fol­gen­der Sequenz: Der König aber sprach: Du bist mei­ne lie­be Braut, und wir schei­den nim­mer­mehr von­ein­an­der!‘ Dar­auf ward die Hoch­zeit gefei­ert, und sie leb­ten ver­gnügt bis zu ihrem Tod.“1

Der Holz­riss Aller­lei­rauh wur­de im Jahr 1947 für eine der ers­ten Aus­stel­lun­gen in der Neu­en Gale­rie der Stadt Linz, der Vor­gän­ger­in­sti­tu­ti­on des LENTOS Kunst­mu­se­um Linz, für die Samm­lung erwor­ben. Die­se Aus­stel­lung trug den Titel Die schöp­fe­ri­sche Frau und fand im Brü­cken­kopf­ge­bäu­de West am Haupt­platz statt. Vil­ma Eckl, Otti­lie Kas­per, Cla­ra Sie­wert und Käthe Koll­witz waren die wei­te­ren schöp­fe­ri­schen“ Frau­en, deren Wer­ke der dama­li­ge Direk­tor Wolf­gang Gur­litt dem Lin­zer Publi­kum in der klei­nen Nach­kriegs­ga­le­rie prä­sen­tier­te. Gur­litt betrieb über­dies einen eige­nen Kunst­ver­lag und gab 1949 einen Kata­log über Mar­gret Bil­ger her­aus. Die dar­in abge­druck­ten Text­bei­trä­ge wur­den vom dama­li­gen Direk­tor der Alber­ti­na, Otto Ben­esch, und von Mon­si­gno­re Otto Mau­er, der zu die­sem Zeit­punkt noch Assis­tent der Katho­li­schen Akti­on in Wien war, ver­fasst. Otto Mau­er berich­tet über die Aus­stel­lung in der Lin­zer Neu­en Gale­rie, dass Gur­litt die Holz­stö­cke Bil­gers gleich goti­schen Tafel­bil­dern“2 par­al­lel zu den Holz­ris­sen ausstellte.


Als Mar­gret Bil­ger an Aller­lei­rauh arbei­te­te, war sie erst kur­ze Zeit in Ober­ös­ter­reich. Sie nann­te das von ihr bewohn­te Haus in Tauf­kir­chen an der Pram das groß­müt­ter­li­che Aus­zugs­häus­chen“, das ihr Schutz in dem Land des Zusam­men­stroms von Donau und Inn“3 gewähr­te und mit dem sie sich ver­bun­den mit sei­nen Geis­tern von klein auf und wie eine Pfor­te nach Nord und Süd, Ost und West“4 fühl­te. In einem Brief vom 9. Dezem­ber 1939 hielt sie fest: Jetzt, wo das äuße­re Leben mir fast gar kei­ne Aus­sicht mehr läßt, mir oft scheint, als feh­le nur das Zünd­holz zur Reib­flä­che des Lebens, gera­de da flammt es von selbst auf und glüht.“5Ihre künst­le­ri­sche Schaf­fens­kraft kul­mi­nier­te dem­nach trotz der kriegs­be­ding­ten wid­ri­gen Umstän­de zu einem ers­ten Höhe­punkt in der Holzrisskunst.


Aller­lei­rauh gehört sti­lis­tisch zu die­ser Werk­se­rie. Mit dem Sti­chel oder einer Nadel riss die Künst­le­rin fei­ne Holz­struk­tu­ren aus den Bir­nen­holz­plat­ten förm­lich her­aus. Die­se Arbeits­wei­se ähnelt der Kalt­na­del­tech­nik, bei der die Zeich­nung eben­falls mit spit­zen Gegen­stän­den in den Bild­grund geritzt wird. Es ergibt sich dadurch eine fein­li­nea­re Struk­tur, die zum Kenn­zei­chen von Bil­gers gra­fi­schen Arbei­ten wurde.
Der eben­falls im Inn­vier­tel leben­de Alfred Kubin ermu­tig­te die Künst­le­rin, vie­le Holz­ris­se anzu­fer­ti­gen. Er war in die­ser Zeit ihr wich­tigs­ter För­de­rer und mit ihm tausch­te sie sich in ihren Brie­fen auch über die Bezeich­nung Holz­riss“ aus: Holz­ris­se ist eine glück­li­che Ein­ge­bung“6, pflich­te­te ihr Kubin bei.

In den ers­ten Nach­kriegs­jah­ren war Mar­gret Bil­ger eine der weni­gen bekann­ten Künst­le­rin­nen, die in Öster­reich tätig waren. Auch der Schie­le-Exper­te Otto Ben­esch war hin­ge­ris­sen von ihren künst­le­ri­schen Arbei­ten. Er cha­rak­te­ri­sier­te das Figür­li­che in Bil­gers Werk als magi­sches Licht­ge­spinst aus dunk­len Grün­den erwach­sen“7. Die­se poe­ti­sche Beschrei­bung passt vor­treff­lich zum Holz­riss Aller­lei­rauh. Auch Otto Mau­er bewies 1949 noch gro­ße Bewun­de­rung, als er über Bil­ger schrieb: Lan­ges und gehor­sa­mes Hor­chen ist die­sen künst­le­ri­schen Äuße­run­gen einer mensch­li­chen See­le vor­aus­ge­gan­gen.“8 Ein paar Jah­re spä­ter ver­la­ger­te sich sein künst­le­ri­sches Inter­es­se. Als er sei­ne Gale­rie St. Ste­phan, spä­ter in Gale­rie nächst St. Ste­phan umbe­nannt, grün­de­te, war Mar­gret Bil­ger längst pas­sé. Die neu­en Stars hie­ßen Arnulf Rai­ner, Wolf­gang Hol­legha, Josef Mikl, Johann Fruh­mann und Mar­kus Prachensky.

Alfred Kubin nann­te die Künst­le­rin in sei­nen Brie­fen lan­ge Zeit Elbin“ und Drya­de“. Genau­so mys­tisch und feen­gleich wie die Frau­en­gestal­ten in ihren Holz­ris­sen wird sie auch selbst von ihren Zeit­ge­nos­sen beschrie­ben, in ihrem Wesen sehr fein­füh­lig, schwer­mü­tig. Als Meis­te­rin des Holz­ris­ses und unver­gleich­li­che Glas­künst­le­rin gilt sie nach wie vor als bewun­derns­wer­te Pionierin.

Pro­ve­ni­enz

Die­ser Holz­schnitt gilt als eine der frü­hes­ten Erwer­bun­gen der Neu­en Gale­rie der Stadt Linz, die im Jahr 1946 gegrün­det wurde.

Bio­gra­fie

1904:

gebo­ren unter dem Namen Mar­ga­re­tha am 12. August als zwei­tes von drei Kin­dern des His­to­ri­kers Fer­di­nand Bil­ger und sei­ner Frau Mar­git in Graz

1907:

die Fami­lie zieht nach Hei­del­berg, wo der Vater bis 1911 am Deut­schen Rechts­wör­ter­buch arbeitet

1911:

Beginn der durch Krank­hei­ten unter­bro­che­nen Schul­lauf­bahn an der evan­ge­li­schen Volks­schu­le in Graz

1920:

Bil­ger ver­lässt nach einer Herz­mus­kel­er­kran­kung das Gym­na­si­um und tritt in die Kunst­ge­wer­be­schu­le in Graz ein

1922:

aus Oppo­si­ti­on zum Eltern­haus, das die künst­le­ri­sche Bega­bung der Toch­ter för­dert und ein Kunst­stu­di­um in Leip­zig befür­wor­tet, beschließt Bil­ger, Dia­ko­nis­sin zu werden

1922 – 1923:

Stu­di­um an der Kunst­ge­wer­be­schu­le und am Werk­haus Merz in Stuttgart

1924

nach einer Kri­se arbei­tet Bil­ger als Hilfs­schwes­ter bei tuber­ku­lö­sen Kin­dern auf der stei­ri­schen Stolzalpe

1925 – 1929:

Stu­di­um an der Wie­ner Kunst­ge­wer­be­schu­le bei Ber­told Löffler

1927:

Beginn der Beschäf­ti­gung mit der Glasmalerei

1928:

Ver­lei­hung des Staats­prei­ses für die bes­te Gesamt­leis­tung an der Kunstgewerbeschule

1930:

nach Been­di­gung ihres Stu­di­ums arbei­tet Bil­ger als Ver­käu­fe­rin bei den Wie­ner Werkstätten

1933:

Hei­rat mit dem Flick­schus­ter Mar­kus Kastl. Eine Tod­ge­burt stürzt die Künst­le­rin in eine schwe­re Krise

1935:

Ent­wür­fe für Spiel­zeug, Kin­der­bü­cher und Webereien

1936:

Schei­dung von Mar­kus Kastl

1938:

Freund­schaft mit Alfred Kubin. Ers­te Aqua­rell­ar­bei­ten. Über­sied­lung nach Tauf­kir­chen an der Pram, wo die Fami­lie ein von den Groß­el­tern ererb­tes Haus besitzt

1942:

die Künst­le­rin signiert mit Mar­gret Bilger“
In den fol­gen­den Jah­ren meh­re­re Aus­stel­lun­gen in der Gale­rie Gün­ther Fran­ke in München

1945:

Ver­trag mit dem Kunst­händ­ler Wolf­gang Gur­litt, dem Grün­der der Neu­en Gale­rie der Stadt Linz

1946:

Bekannt­schaft mit dem Bau­haus­ma­ler Hans Joa­chim Breustedt

1950 – 1971:

kon­ti­nu­ier­li­che Arbeit an Glas­fens­tern, u. a. im Klos­ter Schlier­bach, Wien-Hei­li­gen­stadt, Don Bosco in Wien, Salz­burg-Herrn­au, Linz-St. Mag­da­le­na, Stift Heiligenkreuz

1953:

Hei­rat mit Hans Joa­chim Breustedt

1954:

Ver­lei­hung der Gol­de­nen Medail­le für Glasmalerei

1960:

Ver­lei­hung des Professorentitels

1960 – 1961:

monu­men­ta­le Fens­ter­auf­trä­ge für Salz­burg, Rohrbach/​Stmk. und Lenzing/​OÖ.

1970:

schwe­re Ope­ra­ti­on, von der sich die Künst­le­rin nicht mehr erholt

1971:

gestor­ben am 24. Juli in Schärding

1975:

gro­ße Gedächt­nis­aus­stel­lung im Klos­ter Schlierbach

1997/98:

umfas­sen­de Werk­re­tro­spek­ti­ve in der Lan­des­ga­le­rie Ober­ös­ter­reich. Par­al­lel dazu Publi­ka­ti­on über Mar­gret Bil­ger, hg. v. Peter Ass­mann und Mel­chi­or Frommel

2010:

Aus­stel­lung Berüh­run­gen. Begeg­nun­gen. Alfred Kubin und die Künst­le­rin­nen Emmy Hae­se­le, Cla­ra Sie­wert und Mar­gret Bil­ger im NORDICO Stadt­mu­se­um Linz

Ver­wen­de­te Literatur

Die schöp­fe­ri­sche Frau. Mar­gret Bil­ger, Vil­ma Eckl, Otti­lie Kas­per, Käthe Koll­witz, Cla­ra Sie­wert, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, Neue Gale­rie der Stadt Linz, Linz 1947.

Otto Mau­er, Mar­gret Bil­ger. Das gra­phi­sche Werk, Linz o. J. [ca. 1949].

Otto Breicha, Mel­chi­or From­mel (Hg.), Mar­gret Bil­ger. Holz­ris­se – Zeich­nun­gen – Glas­fens­ter­ar­bei­ten, Salz­burg 1988.

  1. www.grimmstories.com/de/grimm_maerchen/allerleirauh (abgerufen am 18.12.2017).
  2. Otto Mauer, Margret Bilger. Das graphische Werk, Linz o. J. [ca. 1950], S. 7.
  3. Margret Bilger, zit. n.: Die schöpferische Frau. Margret Bilger, Vilma Eckl, Ottilie Kasper, Käthe Kollwitz, Clara Siewert, Ausstellungskatalog, Neue Galerie der Stadt Linz, Linz 1947, S. 7.
  4. Ebd.
  5. Zit. n.: Franz Xaver Hofer, „Das Land der Seele suchend. Die Zeichnung im Lebenswerk Margret Bilgers“, in: Otto Breicha, Melchior Frommel (Hg.), Margret Bilger. Holzrisse – Zeichnungen – Glasfensterarbeiten, Salzburg 1988, S. 131–142, hier S. 138.
  6. Zit. n.: Otto Breicha, „Die die Erde feierte. Margret Bilgers Holzrisse“, in: Breicha, Frommel 1988, S. 15–25, hier S. 15.
  7. Mauer o. J. [ca. 1950], S. 4.
  8. Ebd., S. 7.

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