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Max Klinger, Frauenakt , 1903

Koh­le­zeich­nung mit Weiß­hö­hun­gen auf Papier, 68,8 x 41,8 cm

Klin­gers Koh­le­zeich­nung zeigt einen weib­li­chen Akt in sit­zen­der Pose. Die Kör­per­ach­se der jun­gen Frau ori­en­tiert sich ent­lang einer von links oben nach rechts unten ver­lau­fen­den Kom­po­si­ti­ons­dia­go­na­le. Die schrä­ge Anord­nung des Frau­en­kör­pers ver­leiht dem Bild viel Leben­dig­keit und Spon­ta­nei­tät und steht in span­nungs­vol­lem Kon­trast zur Ortho­go­na­li­tät des hoch­for­ma­ti­gen Bild­trä­gers. Die jun­ge Frau erweckt den Ein­druck, völ­lig in sich gekehrt zu sein. Der Reiz des Moment­haf­ten wird durch effekt­vol­le Weiß­hö­hun­gen, die die Figur model­lie­ren und Licht­re­fle­xe akzen­tu­ie­ren, sowie durch die Aus­schnitt­haf­tig­keit der Dar­stel­lung begünstigt.

In der Zeich­nung sind die Glied­ma­ßen ange­deu­tet oder ganz aus­ge­spart: Die Hän­de sowie der lin­ke Fuß feh­len zur Gän­ze. Wäh­rend sich der lin­ke Arm hin­ter dem auf­ge­stütz­ten Bein ver­steckt, zeigt sich der rech­te als zwei par­al­lel geführ­te Lini­en, die vom Bild­rand jäh über­schnit­ten wer­den. Die­ser Arm wirkt so, als wäre er am Bild­rand fest­ge­zurrt. Durch sei­ne Anbin­dung an den Bild­rand gleicht er eine zu star­ke visu­el­le Gewich­tung der lin­ken Bild­hälf­te aus und stützt damit – einer Krü­cke gleich – die Kom­po­si­ti­on, ver­leiht ihr Sta­bi­li­tät und Ausgewogenheit.


Figu­ren mit gebeug­ten Kör­per­hal­tun­gen – wie in unse­rer Skiz­ze – ken­nen wir aus der grie­chi­schen und römi­schen Anti­ke. Max Klin­ger mag sie wohl in den Kunst­samm­lun­gen der Medi­ci in Flo­renz oder in den Vati­ka­ni­schen Muse­en in Rom1 stu­diert haben.

Der Künst­ler ver­reis­te in den 1880er- und 1890er-Jah­ren mehr­mals nach Paris, Flo­renz und Rom. Eine Tour führ­te ihn 1894 bis nach Grie­chen­land, wo er sich von deut­schen Archäo­lo­gen Farb­res­te auf anti­ken Sta­tu­en zei­gen ließ. Dies war inso­fern spek­ta­ku­lär, als lan­ge Zeit ange­nom­men wor­den war, dass anti­ke Sta­tu­en grund­sätz­lich farb­los waren. In Paris besuch­te Max Klin­ger eine Aus­stel­lung Augus­te Rodins. Beson­de­res Inter­es­se erweck­ten die Tor­so­dar­stel­lun­gen des berühm­ten fran­zö­si­schen Bild­hau­ers. Im aka­de­mi­schen Kunst­ver­ständ­nis der dama­li­gen Zeit durf­te man eine frag­men­ta­ri­sche Kör­per­dar­stel­lung nur in Zusam­men­hang mit anti­ken The­men wäh­len. Rodin setz­te sich als ers­ter über die­se Bestim­mung hin­weg. Wie man aus dem Nach­lass Max Klin­gers weiß, besaß der Künst­ler Fotos der Nike von Samo­thra­ke und der Venus von Milo – bei­des anti­ke Sta­tu­en, die der Nach­welt als Tor­si erhal­ten sind. Im Fal­le der Nike fehlt der Kopf, die Venus von Milo ist ohne Arme auf­ge­fun­den wor­den. Spä­tes­tens seit 1895, als Max Klin­ger an sei­ner Skulp­tur Kas­san­dra arbei­te­te, schuf der deut­sche Künst­ler selbst Torsi.


Im Gemäl­de Die Blaue Stun­de von 1890 taucht bereits eine Frau­en­gestalt in ähn­lich gebeug­ter Kör­per­hal­tung auf. Das Bild gibt drei Frau­en­ak­te wie­der, die in der Däm­me­rung auf Fels­klip­pen am Meer lagern, in den drei mensch­li­chen Grund­hal­tun­gen ste­hen, sit­zen und lie­gen. Auch Skulp­tu­ren wie Baden­de, sich im Was­ser spie­gelnd (1896÷97) und Gala­thea (1906) zei­gen gebeug­te Frau­en­kör­per. Ein 1902 ent­stan­de­nes Pro­fil­bild, das gro­ße Ähn­lich­keit mit den Dar­ge­stell­ten der Skulp­tu­ren auf­weist, hat Klin­ger mit Hele­ne Donath beti­telt. Für die Mar­mor­sta­tue Kau­ern­de aus dem Jahr 1901 dürf­te die jun­ge Frau eben­falls Modell gestan­den haben. Die 1903 ent­stan­de­ne Zeich­nung im Lentos lässt sich als zeich­ne­ri­sche Vari­an­te zu den ange­führ­ten Wer­ken bezeichnen.

Wel­che Wert­schät­zung die Zeich­nung bei Klin­ger genoss, bele­gen sei­ne eige­nen Schrif­ten. In Male­rei und Zeich­nung, 1891 publi­ziert, wies der Künst­ler der Zeich­nung eine auto­no­me Posi­ti­on zu: Aus den unge­heu­ren Kon­tras­ten zwi­schen der gesuch­ten, gese­he­nen, emp­fun­de­nen Schön­heit und der Furcht­bar­keit des Daseins, die schrei­end oft ihm (dem Künst­ler) begeg­net, müs­sen Bil­der ent­ste­hen, wie sie dem Dich­ter, dem Musi­ker aus der leben­di­gen Emp­fin­dung ent­sprin­gen. Soll­ten die­se Bil­der nicht ver­lo­ren gehen, so muß es eine Male­rei und Skulp­tur ergän­zen­de Kunst geben. … Die­se Kunst ist die Zeich­nung.“2


Figu­ren­stu­di­en und ‑zeich­nun­gen fer­tig­te der Künst­ler übli­cher­wei­se nach dem Leben, d. h. vor Model­len an. Die­se tra­gen daher die unver­wech­sel­ba­ren, indi­vi­du­el­len Züge ihrer Prot­ago­nis­tin­nen. Die Frau­en wer­den auf Zeich­nun­gen so fest­ge­hal­ten, wie sie sich ohne gesell­schaft­li­che Codie­rung oder sym­bo­lis­ti­sche Über­hö­hung zei­gen: ganz sie selbst und bar jeder reprä­sen­ta­ti­ven Funk­ti­on, wor­aus sich der unge­wöhn­li­che Reiz die­ser Wer­ke erklärt.

Die rudi­men­tä­re Dar­stel­lung der Glied­ma­ßen auf unse­rem Blatt könn­te den Ein­druck erwe­cken, als habe Klin­ger die Zeich­nung nicht fer­tig­ge­stellt. Signa­tur und Datie­rung am lin­ken unte­ren Bild­rand wider­le­gen die­se Ver­mu­tung jedoch. Der Künst­ler hat die Cha­rak­te­ri­sie­rung von Hän­den und Füßen bewusst knapp gehal­ten, um die gan­ze Auf­merk­sam­keit auf jene durch anti­ke Vor­bil­der inspi­rier­te, gebeug­te Kör­per­hal­tung zu len­ken, und er hat somit einen gezeich­ne­ten Tor­so geschaffen.

Tor­so

Bruch­stück­haft erhal­te­ne oder bewusst unvoll­endet belas­se­ne Sta­tue, bei der Tei­le abge­bro­chen oder nie aus­ge­führt wor­den sind. Anti­ke und Mit­tel­al­ter kann­ten den Tor­so als selbst­stän­di­ge Kunst­form nicht. Im Werk Augus­te Rodins erscheint der Tor­so erst­mals als eigen­stän­di­ges Motiv. Im 20. Jahr­hun­dert erho­ben Wil­helm Lehm­bruck, Con­stan­tin Bran­cu­si, Hans Arp und Hen­ry Moo­re die Frag­men­tie­rung der mensch­li­chen Figur end­gül­tig zur Konzeption.

Bio­gra­fie

1857:

am 18. Febru­ar in Leip­zig geboren

1863 – 1867:

Besuch der Bür­ger­schu­le in Leipzig

1874:

Stu­di­um an der Groß­her­zog­lich Badi­schen Kunst­schu­le in Karlsruhe

1875:

Über­sied­lung nach Ber­lin, Auf­nah­me an die König­li­che Aka­de­mie der Küns­te bei Karl Gus­sow. Adolf Men­zel wird zum künst­le­ri­schen Vor­bild Klin­gers in Berlin

1879:

Rei­se nach Brüs­sel, Schü­ler von Emi­le Charles Wauters

1880:

Aus­stel­lung der Radier­fol­ge Eva und die Zukunft in München

1881:

Rück­kehr nach Berlin

1883:

ers­ter gro­ßer Auf­trag zur Aus­ma­lung einer Vil­la in Ste­glitz bei Ber­lin. Erst­ma­li­ge Erpro­bung des Zusam­men­wir­kens von Archi­tek­tur, Male­rei und Plas­tik, die in die Idee des Gesamt­kunst­werks mündet

1885:

Auf­ent­halt in Paris

1887:

lernt Arnold Böck­lin in Ber­lin kennen

1888 – 1893:

Auf­ent­hal­te in Ita­li­en, vor­wie­gend in Rom

1890:

Stu­di­um anti­ker Plas­tik in Rom

1893:

Rück­kehr nach Leipzig

1894:

ers­te umfang­rei­che Son­der­aus­stel­lung in Leipzig
Rei­se nach Ber­lin, wo er Johan­nes Brahms besucht
Rei­se nach Athen, wo er mit den deut­schen Archäo­lo­gen Paul Hart­wig, Botho Gra­ef und Paul Wol­ters zusam­men­trifft. Die­se haben Res­te far­bi­ger Skulp­tu­ren auf der Akro­po­lis gefunden

1895:

lehnt eine Pro­fes­sur in Wien ab

1897:

Ernen­nung zum Pro­fes­sor an der Aka­de­mie der Gra­phi­schen Küns­te in Leipzig

1898:

lernt die Schrift­stel­le­rin Elsa Ase­ni­jeff (1867 – 1941) ken­nen, die für etwa 15 Jah­re sei­ne Lebens­ge­fähr­tin und sein Modell wird

1900:

Geburt der Toch­ter Dési­rée in Paris

1902:

Die Skulp­tur Beet­ho­ven (1885 – 1902) wird nach ihrer Voll­endung in Wien und anschlie­ßend in Düs­sel­dorf und Ber­lin gezeigt. Gro­ßer Erfolg der Aus­stel­lung durch Umset­zung der Idee des Gesamtkunstwerks

1904:

län­ge­re Auf­ent­hal­te auf Elba, um Mar­mor zu kaufen

1906:

Grün­dung des Vil­la-Roma­na-Ver­eins mit Sitz in Leip­zig und Wahl Klin­gers zum Vor­sit­zen­den. Klin­ger erhält meh­re­re Aus­zeich­nun­gen, u. a. Rit­ter des Ordens Pour le Mérite

1907:

Rei­sen nach Paris und Spa­ni­en. Im Pra­do begeis­ter­tes Stu­di­um der Wer­ke von Goya, Ribe­ra und Velázquez

1908:

Max Rein­hardt erteilt Klin­ger den Auf­trag zur Gestal­tung des Büh­nen­bil­des zu Shake­speares Mac­beth, das aber nicht aus­ge­führt wird

1911:

Ger­trud Bock (1893 – 1932) wird Klin­gers Modell

1913:

Grund­stein­le­gung zu einem Wag­ner-Denk­mal in Leip­zig, das unaus­ge­führt bleibt

1919:

Schlag­an­fall mit rechts­sei­ti­ger Läh­mung. Max Klin­ger und Ger­trud Bock heiraten

1920:

Tod Klin­gers am 4. Juli in Großjena

Pro­ve­ni­enz

Die Gra­fik Frau­en­akt wur­de 1953 aus dem Besitz des Gale­ris­ten Wolf­gang Gur­litt für das von ihm 1946 gegrün­de­te Muse­um Neue Gale­rie der Stadt Linz – Wolf­gang Gur­litt Muse­um (heu­te Lentos Kunst­mu­se­um Linz) erworben.

Ver­wen­de­te Literatur

Max Klin­ger. Wege zum Gesamt­kunst­werk, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, Roemer- und Peli­zae­us-Muse­um, Hil­des­heim, Mainz 1984.

Pav­la Lan­ger (Hg.), Max Klin­ger. Wege zur Neu­be­wer­tung, Leip­zig 2008.

Edda Hevers, Klaus Gall­witz (Hg.), Max Klin­ger. 1857 – 1920, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, Städ­ti­sche Gale­rie im Stä­del­schen Kunst­in­sti­tut, Frank­furt am Main, Ham­bur­ger Kunst­hal­le, Ham­burg, Frank­furt am Main 1992.

  1. Eine ähnliche (allerdings männliche) Figur ist beispielsweise Teil der Laokoongruppe in den Vatikanischen Museen in Rom.
  2. Max Klinger, Malerei und Zeichnung, Leipzig 1891, S. 215, zitiert nach: Manfred Boetzkes, „Wege zum Gesamtkunstwerk“, in: Max Klinger. Wege zum Gesamtkunstwerk, Ausstellungskatalog, Roemer- und Pelizaeus-Museum, Hildesheim, Mainz 1984, S. 12.

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