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Rudolf Jettmar, Abels Tod aus der Mappe „Byrons Kain“ , 1920

Radie­rung auf Büt­ten­pa­pier, 33 x 46,2 cm (19,5 x 26 cm)

Kain und Abel – der bibli­sche Mythos. Als der Wie­ner Gra­fik­künst­ler Rudolf Jet­t­mar die Serie radier­te, stand er selbst noch unter dem Schock der Gescheh­nis­se des kurz zuvor zu Ende gegan­ge­nen Krie­ges, der Öster­reich von einem Viel­völ­ker­staat zu einer klei­nen Repu­blik schrump­fen ließ. Der begna­de­te Zeich­ner fand ein bibli­sches Pen­dant zu dem, was ihn inner­lich bewegte.

Das gra­fi­sche Blatt stammt aus einer Map­pe mit acht Radie­run­gen, die den Titel Byrons Kain trägt. Ein Jahr lang arbei­te­te Jet­t­mar inten­siv an den Blät­tern: Das Reclam-Bänd­chen, durch das er Lord Byrons Mys­te­ri­um Cain ken­nen lern­te, ist erhal­ten geblie­ben, mit Anstrei­chun­gen und Rand­no­ti­zen, die zu dem radier­ten Zyklus (1919÷1920) hin­über­füh­ren – dem zwei­fel­los bedeu­tends­ten, den Jet­t­mar geschaf­fen hat“1, berich­tet sein Sohn Karl Jet­t­mar, der das Erbe des Vaters verwaltet.


Ent­spre­chend der bibli­schen Schil­de­rung ermor­det Kain, der Acker­bau­er, sei­nen Bru­der, den Hir­ten Abel, da Gott des­sen Gabe sei­ner vor­zog2. Kain war somit der ers­te Mör­der, den Bibel und Koran anfüh­ren. Wes­halb hat Gott das Fleischop­fer Abels ange­nom­men, das Getrei­de­op­fer Kains hin­ge­gen zurück­ge­wie­sen?3

Das, was Kain fehl­te, war, erklärt Hans H. Hof­stät­ter, die inne­re Demut“4 . Der Schwei­zer Kunst­his­to­ri­ker schil­dert den Fort­gang der Geschich­te fol­gen­der­ma­ßen: Gott nimmt des­halb sein Opfer nicht an und Abel bedrängt Kain, es mit Demut zu wie­der­ho­len. Zwi­schen dem unab­ding­ba­ren gläu­bi­gen Abel und Kain kommt es zu einer Aus­ein­an­der­set­zung, bei der Kain mit einem Schlag Abel nie­der­streckt – ohne sich der Fol­gen bewusst sein zu kön­nen, da es zuvor kei­nen Tod auf der Erde gege­ben hat­te.“5 Kain wird von sei­nen Eltern dar­auf­hin ver­flucht. Gemein­sam mit sei­ner Frau gerät der Ver­sto­ße­ne in Jet­t­mars Radier­fol­ge in eine öde, fel­si­ge Land­schaft. Das letz­te Blatt des Zyklus zeigt sodann, wie Luzi­fer Kain sei­nem Schick­sal über­lässt. Anhand von Kain hat sich Luzi­fer bei Gott für sein eige­nes Unter­lie­gen vor Gott“6 gerächt.


Die Map­pe Byrons Kain wur­de in der öster­rei­chi­schen Staats­dru­cke­rei in einer Auf­la­ge von 200 Stück gedruckt. Der Künst­ler war beim Druck anwe­send und hat ihn über­wacht. Zu fast allen Blät­tern der Map­pe exis­tie­ren Vor­zeich­nun­gen, die in Feder oder Pin­sel aus­ge­führt wor­den sind und sich heu­te in Hei­del­ber­ger Pri­vat­be­sitz befin­den.7

Arpád Weixlgärt­ner beschreibt in dem von ihm her­aus­ge­ge­be­nen Werk­ver­zeich­nis, dass Jet­t­mar inten­siv an dem Zyklus gear­bei­tet hat­te. Ein­zel­ne Blät­ter der Radier­fol­ge wur­den in bis zu neun Zustän­den vor­be­rei­tet.8 Das Exem­plar im Besitz des Lentos trägt die Auf­la­gen­num­mer 52/200. Erst­mals war der Kain-Zyklus in der 56. Seces­si­ons­aus­stel­lung von Dezem­ber 1919 bis Jän­ner 1920 aus­ge­stellt.7 Michel­an­ge­los figu­ra ser­pen­ti­na­ta, der gedreh­te mensch­li­che Kör­per, wie er in der Six­ti­ni­schen Kapel­le vor­kommt, sowie die Dar­stel­lung der Erschaf­fung Adams und des Sün­den­falls haben bei Jet­t­mar einen nach­hal­ti­gen Ein­druck hinterlassen.

Karl Jet­t­mar erklärt, dass ein Groß­teil des Werks sei­nes Vaters dem mensch­li­chen Kör­per und sei­nen Aus­drucks­mög­lich­kei­ten gewid­met [ist]. […] Nie­mals fließt Blut. Alles Gesche­hen ist wie ein Tanz durch das Zuein­an­der und Gegen­ein­an­der der Kör­per aus­ge­drückt, die den Geset­zen musi­ka­li­scher Kom­po­si­ti­on gehor­chen.“9


Abels Ermor­dung wird nicht dar­ge­stellt. Sein Tod wird auf Jet­t­mars Radie­rung in eine dia­go­na­le Anord­nung von Hell-Dun­kel-Wer­ten ein­ge­bet­tet. Licht­wer­te wei­sen von Abels Bei­nen zu den end­los wir­ken­den himm­li­schen Sphä­ren. Macht­vol­le Schat­ten füh­ren von Kain in die dunk­len Abgründe.

Das Dra­ma der Blut­tat wider­spie­gelt sich noch auf einer Ebe­ne der psy­chi­schen Ver-fasst­heit der Prot­ago­nis­ten: als eine Gegen­über­stel­lung von fried­vol­ler Ent­span­nung (Abel) und geball­ter Anspan­nung (Kain), von Unschuld und Verzweiflung.

Die gesell­schafts­re­le­van­te Deu­tung von Jet­t­mars Zyklus Byrons Kain ist vor dem Hin­ter­grund des Ers­ten Welt­krie­ges zu sehen. Die Schat­ten­sei­ten des Krie­ges trans­fe­riert Jet­t­mar in sei­ner Radier­fol­ge auf eine sym­bo­li­sche Ebe­ne. Die tie­fe­ren Zusam­men­hän­ge erschlie­ßen sich, wenn wir die gleich­nis­haf­te Ver­qui­ckung von bibli­schem Motiv und zeit­ge­nös­si­schem Gesche­hen als Inter­pre­ta­ti­on des Künst­lers begreifen.

Radie­rung

Unter dem Begriff Radie­rung ver­ste­hen wir eine Grup­pe von Tief­druck­tech­ni­ken, linea­ren und getön­ten Zeich­nun­gen, bei denen das Bild mit­tels eines Ätz­mit­tels in die glat­te Ober­flä­che der Metall­plat­te ver­tieft wird. Die Vor­gän­ger der Radie­rung waren Metho­den der Metall­gra­veu­re des 15. Jahr­hun­derts, die sich die müh­sa­me und lang­wie­ri­ge Arbeit an den aus­ge­schmück­ten Sti­chen mit­tels Säu­re­ein­wir­kung erleich­ter­ten. In der Mit­te des 18. Jahr­hun­derts wur­den neue Vor­gän­ge für die Bear­bei­tung der Zeich­nung und des Ätzens gefun­den, wobei die getön­te Radie­rung ent­stand. Die Radie­rung hat vie­le ver­schie­de­ne Aus­drucks­mit­tel und kann daher als einer der wirk­sams­ten Zwei­ge der künst­le­ri­schen Gra­fik bezeich­net wer­den. Im Gegen­satz zu den Kup­fer­sti­chen hör­te die Radie­rung nie auf, gra­fi­sche Künst­ler ver­schie­dens­ter Genera­ti-onen anzu­zie­hen. Zu ihnen gehö­ren Wil­liam Hogarth, Jean-Fran­çois Mil­let, Édouard Manet, James Abbott McN­eill Whist­ler, Pablo Picas­so und andere.

Bio­gra­fie

1869:

am 10. Sep­tem­ber in Zawod­zie (bei Kra­kau, damals im öster­rei­chi­schen Gali­zi­en) als ältes­ter Sohn eines Guts­ver­wal­ters gebo­ren. Nach der Geburt sei­nes Bru­ders Franz kehrt die Fami­lie nach West­böh­men zurück

1875 – 1886:

nach dem Tod der Mut­ter und der Wie­der­ver­hei­ra­tung des Vaters Schul­be-such in Libot­schan bei Saaz, Tschisch­ko­witz bei Lobo­sitz, Komo­tau, Böh­misch-Lei­pa und Eger (Gym­na­si­um). Er spielt Gei­ge, Flö­te, Orgel. Nach schwe­rer Krank­heit Erlaub-nis, Musi­ker zu werden

ab 1887:

Stu­di­um an der Wie­ner Aka­de­mie der bil­den­den Küns­te bei Franz Rump­ler, Chris­ti­an Grie­pen­kerl und August Eisenmenger

1892:

Über­sied­lung nach Karls­ru­he. Stu­di­um an der Badi­schen Kunst­aka­de­mie bei dem Por­trä­tis­ten Cas­par Ritter

1893:

Fuß­rei­se über den Schwarz­wald nach Italien

1894 – 1895:

Deko­ra­ti­ons­ma­ler in Leip­zig und Dresden

1896 – 1896:

Ita­li­en­rei­se (Rom­preis): Rom, Nea­pel, Vene­dig, Florenz

1897:

Wien. Stu­di­um an der Meis­ter­schu­le für Gra­phik bei Wil­liam Unger. In der Radie­rung fin­det Jet­t­mar das ihm gemä­ße Ausdrucksmittel

1898:

Mit­glied der Wie­ner Seces­si­on. Bald dar­auf Mit­ar­beit bei der Zeit­schrift Ver Sacrum. Leh­rer an der Kunst­schu­le für Frau­en und Mädchen

1899 – 1902:

meh­re­re Ita­li­en­auf­ent­hal­te (Nea­pel, Vene­dig, Fer­ra­ra, Perugia, Assisi)

1907:

Jet­t­mar zeigt fast sein gan­zes bis dahin geschaf­fe­nes gra­fi­sches Œuvre auf der Gro­ßen Ber­li­ner Kunst­aus­stel­lung. Hei­rat mit Irma Mayer

1908:

Auf­ent­halt auf Schloss Dui­no beim Fürs­ten­paar Thurn und Taxis

1909:

Auf­ent­halt in Rom und in der Toskana

1910 – 1928:

Pro­fes­sor der Aka­de­mie der bil­den­den Küns­te in Wien. Leh­rer an der All­ge­mei­nen Malschule

1924 – 1925:

Lei­ter der Meis­ter­schu­le für Malerei

1925 – 1927:

Lei­ter der All­ge­mei­nen Malschule

1928:

Über­nah­me der Meis­ter­schu­le für gra­phi­sche Küns­te an der Wie­ner Akademie

ab 1934:

Erkran­kung, wie­der­hol­te Operationen

1935:

Über­tritt in den Ruhe­stand. Jet­t­mar wird Ehren­mit­glied der Aka­de­mie der bil­den­den Küns­te Wien und Ehren­mit­glied der Wie­ner Philharmoniker

1937:

erhält das Kom­tur­kreuz des öster­rei­chi­schen Verdienstordens

1939:

stirbt am 21. April in Wien

Pro­ve­ni­enz

Die Gra­fik­map­pe Byrons Kain von Rudolf Jet­t­mar wur­de 1988 aus Schwei­zer Pri­vat­be­sitz erworben.

Ver­wen­de­te Literatur

Karl Jet­t­mar, Zum Werk Rudolf Jet­t­mars, Sepa­ra­tum aus der Zeit­schrift Alte und Moder­ne Kunst, 118, Sept./Okt. 1971.

Rudolf Jet­t­mar. 1869 – 1939, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, Ost­deut­sche Gale­rie Regens­burg, Regens­burg 1975.

Hans H. Hof­sta­et­ter, Rudolf Jet­t­mar, hg. v. der Aka­de­mie der bil­den­den Küns­te Wien, Wien 1984. 

  1. Karl Jettmar, „Zum Verständnis der Bilder meines Vaters“, in: Rudolf Jettmar. 1869–1939, Ausstellungskatalog, Ostdeutsche Galerie Regensburg, Regensburg 1975, o. S.
  2. Vgl. 1. Buch Mose, Genesis, 4,1–24.
  3. Auch in unserer Zeit, in der viele Menschen vegetarische Kost bevorzugen, scheint dies ein nahezu unlösbarer Widerspruch zu sein. Entsprechend der christlichen Mystikerin Anna Katharina Emmerich (1774–1824) soll Kain allerdings der erste Mensch gewesen sein, der Fleisch gegessen hat, da ihm die Erde verflucht worden sei. Vgl. dazu: Anna Katharina Emmerich, Geheimnisse des Alten und Neuen Bundes, Stein/Rhein 1993, Kap. 5. Laut Emmerich soll sich das Kainsmal, das Kain nach der Ermordung seines Bruders erhielt, so ausgewirkt haben, dass sein ganzer Körper dunkelhäutig wurde. Jettmar stellt die Figur des Kains abgeschattet dar.
  4. Hans H. Hofstaetter, Rudolf Jettmar, hg. v. der Akademie der bildenden Künste Wien, Wien 1984, S. 50.
  5. ebd.
  6. ebd., S. 51.
  7. ebd., S. 170f.
  8. Zitiert nach: ebd., S. 51.
  9. Karl Jettmar, Zum Werk Rudolf Jettmars, Separatum aus der Zeitschrift Alte und Moderne Kunst, 118, Sept./Okt. 1971, S. 39.

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