Zum Hauptinhalt springen
Tony Cragg, Ohne Titel, o. D. , ca. 2000

Litho­gra­fie auf Büt­ten­pa­pier, Inv.-Nr.: G 8513, Stif­tung Maria und Gerald Fischer-Colbrie

  • Tony Cragg, Ohne Titel, o. D., ca. 2000
  • Tony Cragg, „New Curly“, aus der Serie „Early Forms“, 2001
  • Tony Gragg, Ohne Titel, 1997
  • Tony Cragg, Ferryman, 2001

In der Litho­gra­fie von Tony Cragg sehen wir drei säu­len­ar­ti­ge Gebil­de. Ver­wen­det hat der Künst­ler quer­for­ma­ti­ges Papier, das die Monu­men­ta­li­tät der Kom­po­si­ti­on unter­streicht. Die Figu­ren set­zen sich mit gebo­ge­nen und kreis­för­mi­gen Aus­buch­tun­gen vom wei­ßen Papier­grund ab. In einem dyna­mi­schen Wech­sel­spiel zei­gen sich an der Kon­tur­li­nie ondu­lie­ren­de For­men, die zwi­schen kon­kav und kon­vex hin- und her­schwin­gen. Es ist wie ein per­ma­nen­tes Geben und Neh­men – manch­mal expan­diert die Figur in den Bild­raum, dann wie­der setzt sich der Bild­grund durch.


Die drei Ste­len sind mit dyna­mi­schen Strich­la­gen aus­ge­füllt. Das Weiß des Bild­grun­des schim­mert durch sie hin­durch und ver­leiht der Kom­po­si­ti­on Schwung und Leben­dig­keit. Ande­rer­seits gerät die Kom­po­si­ti­on durch die Trans­pa­renz der Strich­la­gen und geför­dert durch die offe­ne Kon­tur­li­nie auch in leb­haf­ten Aus­tausch mit dem Bild­grund. Die drei Ste­len ragen inner­halb eines Weiß auf, das nicht näher defi­niert ist, was ihren Abs­trak­ti­ons­wert stark erhöht. Ihr Umraum ist nicht näher bestimm­bar; die Figu­ren sind nicht nur der räum­li­chen, son­dern auch der zeit­li­chen Fest­le­gung enthoben.

Tony Cragg gilt als einer der wich­tigs­ten Ver­tre­ter der soge­nann­ten New Bri­tish Sculp­tu­re. Nach dem Schul­ab­schluss arbei­te­te er zunächst zwei Jah­re in einem For­schungs­la­bor für Bio­che­mie, wo er sich in die Welt der Mikro­or­ga­nis­men und Mole­kü­le, der ver­bor­ge­nen Bau­stei­ne unse­rer sicht­ba­ren Wirk­lich­keit, ver­tie­fen konn­te. Labor­ma­te­ria­li­en, wie Vasen, Kol­ben und Scha­len, wur­den in spä­te­ren Objekt­se­ri­en zu den form­ge­ben­den Kom­po­nen­ten. In sei­nem künst­le­ri­schen Früh­werk beschäf­tig­te er sich mit Land-Art und ließ sich ab 1978 von Con­cept-Art und Arte pove­ra anre­gen. Er schuf Mate­ri­al­li­ni­en aus gereih­ten oder geschich­te­ten Stei­nen. In den Strand des süd­eng­li­schen See­ba­des Has­tings zeich­ne­te er den Umriss sei­nes Kör­pers ein (Shadow Dra­wing, 1972). Sein eige­ner Kör­per dien­te ihm in die­ser Serie als Medi­um der Erkun­dung von Raum und Volu­men. Craggs Luft­zeich­nun­gen bestan­den aus empor­ge­schleu­der­ten Lini­en (kon­kret waren das Schnü­re), deren eph­eme­rer Cha­rak­ter durch eine Foto­se­rie doku­men­tiert wurde.


Vor allem Assem­bla­gen aus far­bi­gen Plas­tik­tei­len mach­ten ihn Anfang der 1980er-Jah­re bekannt. Als einer der ers­ten Künst­ler sah Cragg im zeit­ge­nös­si­schen Zivi­li­sa­ti­ons­schrott (z. B. Kunst­stoff, Metall, Gum­mi, Sperr­holz) Bedeu­tungs­trä­ger unse­rer Zeit, die älte­ren Mate­ria­li­en eben­bür­tig sind. Ab Mit­te der 1980er-Jah­re gestal­te­te er eine Rei­he von groß­for­ma­ti­gen Auf­trags­ar­bei­ten für den öffent­li­chen Raum und wähl­te für die­se Metall­güs­se nicht nur das klas­si­sche Mate­ri­al Bron­ze, son­dern auch Fiber­glas, Edel­stahl und Cortenstahl.


In New Cur­ly aus der Serie Ear­ly Forms schuf Cragg eine orga­nisch geform­te Plas­tik, deren gebo­ge­ne Schwün­ge aus­ge­dehn­te Hohl­räu­me bil­den. Die­se Metall­hül­se ist als Behäl­ter für meta­pho­risch gedach­te Zel­len, Orga­ne oder den Orga­nis­mus als Gan­zes1 zu sehen und bie­tet sowohl ein Außen als auch ein Innen dar. Sie denkt auch den Umraum mit und nimmt ihn in die Kom­po­si­ti­on hin­ein. Tony Cragg zufol­ge kann die Bron­ze­hül­le sei­ner Wer­ke als vibrie­ren­der Ort des Heu­te zwi­schen Ges­tern und Mor­gen“2 gese­hen werden. 


In ande­ren Plas­ti­ken schich­tet Cragg labi­le Säu­len aus ver­schie­de­nen Gefä­ßen auf. Die­se Scha­len, Ampho­ren und Urnen häu­fen sich hier nicht nur wind­schief über­ein­an­der, son­dern bau­chen sich bieg­sam inein­an­der, wir­beln kon­zen­trisch mit­ein­an­der in geschmei­di­ger Rota­ti­on um schwan­ken­de Ach­sen, so rasend, dass ihr Eiern, Schep­pern und Klap­pern gera­de­zu hör­bar zu wer­den scheint.“3 In einen Metall­guss über­tra­gen, wer­den die ursprüng­li­chen Mate­ri­al­un­ter­schie­de nivel­liert, wodurch die Plas­ti­ken zu abs­trak­ten Form­ge­bil­den ver­dich­tet wer­den. Man­che sei­ner Zeich­nun­gen die­nen Tony Cragg als Vor­la­gen für Plas­ti­ken. In der vor­lie­gen­den Litho­gra­fie han­delt es sich aller­dings um eine auto­no­me Zeich­nung, die als Zwi­schen­sta­di­um zwi­schen ver­schie­de­nen Objekt­se­ri­en gese­hen wer­den kann.


Tony Cragg, Ohne Titel, 1997, Blei­stift auf Papier, Buch­mann Gale­rie, Berlin


Die Litho­gra­fie ist sehr plas­tisch gedacht. Als drei­di­men­sio­na­le Objek­te wür­den die drei dar­ge­stell­ten Ste­len auf jeder Sei­te neue Aspek­te ver­an­schau­li­chen und dadurch Rund­an­sich­tig­keit zum Aus­druck brin­gen. Die in der Litho­gra­fie dar­ge­stell­ten Aus­buch­tun­gen könn­ten stark abs­tra­hier­te Köp­fe von Men­schen­lei­bern dar­stel­len, die, ver­ti­kal geschich­tet und dicht anein­an­der­ge­rückt, Säu­len bil­den, wie das in der unbe­ti­tel­ten Zeich­nung von 1997 der Fall war.


Craggs Kom­po­si­tio­nen bezie­hen gene­rell sehr viel visu­el­le Span­nung aus dem Wech­sel­spiel zwi­schen Abs­trak­ti­on und Gegen­ständ­lich­keit. Unser Blatt ist noch stär­ker abs­tra­hiert. Es fun­giert als Über­gang zu einer plas­tisch aus­ge­führ­ten Serie, zu der der Fer­ry­man (sie­he Abb.) von 2001 gehört. Die­se Arbeit weist durch die Per­fo­rie­rung der Ober­flä­che jene Trans­pa­renz auf, die in unse­rer Zeich­nung durch die locke­re Strich­set­zung erreicht wurde.


Die vor­lie­gen­de Litho­gra­fie lässt uns letzt­end­lich im Unkla­ren, was exakt dar­ge­stellt ist. Die­ses Moment der Span­nungs­stei­ge­rung führt zu einer Offen­heit in der Inter­pre­ta­ti­on. Craggs Wer­ke wol­len spie­le­risch ent­deckt wer­den. So wie wir in Tin­ten­kleck­sen ver­schie­de­ne Figu­ren erken­nen kön­nen, die immer mit unse­rer eige­nen Geschich­te zu tun haben, so liegt der Fall auch hier: Sind es abs­tra­hier­te Men­schen­säu­len oder drei mensch­li­che Figu­ren im Gespräch? Oder zei­gen sich die drei Ste­len, aus auf­ge­schich­te­ten Gefä­ßen bestehend, als Reprä­sen­ta­ti­on des Plun­ders unse­rer Kon­sum­kul­tur? Grenz­über­schrei­tung und Ver­un­si­che­rung im Wie­der­erken­nen und Zuord­nen von visu­el­len Phä­no­me­nen reprä­sen­tie­ren Qua­li­tä­ten, die auch ein über­aus zutref­fen­der Aus­druck unse­rer Zeit­qua­li­tät sind.

Bio­gra­fie

1949:

gebo­ren in Liverpool

1966 – 1968:

Tech­ni­ker am Labo­ra­to­ry of Natio­nal Rub­ber Pro­du­cers Rese­arch Association

1969 – 1970:

Stu­di­um am Glouces­ter­shire Col­lege of Art and Design, Cheltenham

1970 – 1973:

Fort­set­zung der Aus­bil­dung an der Wim­ble­don School of Art, London

1973 – 1977:

Roy­al Col­lege of Art, Lon­don (Abschluss als Mas­ter of Arts)

1976:

Pro­fes­sur an der Éco­le des Beaux-Arts in Metz

1977:

Über­sied­lung nach Wup­per­tal und Beginn der Ausstellungstätigkeit

1988 – 2001:

Pro­fes­sur an der Kunst­aka­de­mie Düsseldorf

1988:

Ver­lei­hung des Tur­ner-Prei­ses und Teil­nah­me an der Bien­na­le in Venedig

1989:

Von-der-Heydt-Preis

1996:

Ehren­pro­fes­sur in Budapest

1997:

Teil­nah­me an der Bien­na­le in Venedig

2000: Aus­stel­lung in Tate Gal­lery, Liver­pool; Gale­rie Kars­ten Gre­ve, Paris; Mari­an Good­man, New York; Spring­horn­hof, Neu­en­kir­chen; i8 Gal­lery, Reykja­vik; Gale­rie Klüser, Mün­chen; But­ler Gal­lery, Kilkenny

2001:

Ver­lei­hung des Shake­speare-Prei­ses, Pro­fes­sur für Bild­haue­rei an der Hoch­schu­le der Küns­te in Ber­lin, Ehren­dok­tor­ti­tel der Uni­ver­si­ty of Surrey
Aus­stel­lun­gen unter ande­rem in der Gale­rie Aca­de­mia, Salz­burg; Musée d’art con­tem­po­rain de Mon­tré­al, Mon­tré­al; Mam – Mario Mau­ro­ner Con­tem­po­ra­ry Art, Wien

2002:

Pie­pen­b­rock Preis für Skulptur

2003:

Aus­stel­lung in der Mari­an Good­man Gal­lery, New York; Gale­rie Bernd Klüser, Mün­chen; MACRO – Museo d’Arte Con­tem­po­ra­nea di Roma, Rom; Kunst- und Aus­stel­lungs­hal­le der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land, Bonn

2004:

Aus­stel­lung in der Buch­mann Gale­rie, Köln

2005:

Aus­stel­lung in Gale­rie Cathe­ri­ne Puman, Paris; Mam – Mario Mau­ro­ner Con­tem­po­ra­ry Art, Wien; Neu­es Muse­um – Staat­li­ches Muse­um für Kunst und Design, Nürn­berg; Gale­rie Bernd Klüser, München

2006:

Cragg erwirbt in Wup­per­tal einen 15 ha gro­ßen Park samt der denk­mal­ge­schütz­ten Vil­la Wald­frie­den und lässt dort einen Skulp­tu­ren­park anlegen

2007:

Ver­lei­hung des Prae­mi­um Imperiale

2008:

Mit­glied der Euro­päi­schen Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten und Künste

2012:

deut­sches Bun­des­ver­dienst­kreuz 1. Klasse

2013:

vor dem his­to­ri­schen Zoo-Haupt­ge­bäu­de in Wup­per­tal wird das ers­te Denk­mal Tony Craggs aufgestellt

2014:

in der Fuß­gän­ger­zo­ne der Bon­ner Innen­stadt wird eine 6 m hohe Bron­ze­plas­tik des Künst­lers aufgestellt

2015:

Ehren­mit­glied der Kunst­aka­de­mie Düsseldorf

2016:

Aus­stel­lung Tony Cragg. Sculp­tures in der Gale­rie Thad­dae­us Ropac in Salzburg

Pro­ve­ni­enz

Die Gra­fik wur­de dem Lentos Kunst­mu­se­um Linz als Schen­kung von Maria und Gerald Fischer-Col­brie im Jahr 2010 überlassen.

Lite­ra­tur

Staat­li­che Kunst­hal­le Karls­ru­he (Hg.), Tony Cragg. Second Natu­re, Aus­stel­lungs­ka­ta­log, Staat­li­che Kunst­hal­le Karls­ru­he, Muse­um der Moder­ne Salz­burg, Köln 2009.

  1. Vgl. Christa Lichtenstern, „Tony Craggs erweiterte Figur“, in: Tony Cragg. Second Nature, Köln 2009, S. 231–244, hier S. 236.
  2. Ebd.
  3. Vgl. Kirsten Claudia Voigt, „Energielinien oder: Wechselwirkungen in der Wunderkammer. Zur Interaktion von Zeichnung und Skulptur im Werk von Tony Cragg“, in: Tony Cragg. Second Nature, Köln 2009, S. 11–35, hier S. 20–24.

Newsletter

Premium Corporate Partner
Corporate Partner
Ausgezeichnet mit dem Österreichischen Umweltzeichen für Museen
Museen der Stadt Linz

Diese Website verwendet Cookies um das Nutzererlebnis zu verbessern. Mehr dazu