Lithografie auf Büttenpapier, Inv.-Nr.: G 8513, Stiftung Maria und Gerald Fischer-Colbrie
In der Lithografie von Tony Cragg sehen wir drei säulenartige Gebilde. Verwendet hat der Künstler querformatiges Papier, das die Monumentalität der Komposition unterstreicht. Die Figuren setzen sich mit gebogenen und kreisförmigen Ausbuchtungen vom weißen Papiergrund ab. In einem dynamischen Wechselspiel zeigen sich an der Konturlinie ondulierende Formen, die zwischen konkav und konvex hin- und herschwingen. Es ist wie ein permanentes Geben und Nehmen – manchmal expandiert die Figur in den Bildraum, dann wieder setzt sich der Bildgrund durch.
Die drei Stelen sind mit dynamischen Strichlagen ausgefüllt. Das Weiß des Bildgrundes schimmert durch sie hindurch und verleiht der Komposition Schwung und Lebendigkeit. Andererseits gerät die Komposition durch die Transparenz der Strichlagen und gefördert durch die offene Konturlinie auch in lebhaften Austausch mit dem Bildgrund. Die drei Stelen ragen innerhalb eines Weiß auf, das nicht näher definiert ist, was ihren Abstraktionswert stark erhöht. Ihr Umraum ist nicht näher bestimmbar; die Figuren sind nicht nur der räumlichen, sondern auch der zeitlichen Festlegung enthoben.
Tony Cragg gilt als einer der wichtigsten Vertreter der sogenannten New British Sculpture. Nach dem Schulabschluss arbeitete er zunächst zwei Jahre in einem Forschungslabor für Biochemie, wo er sich in die Welt der Mikroorganismen und Moleküle, der verborgenen Bausteine unserer sichtbaren Wirklichkeit, vertiefen konnte. Labormaterialien, wie Vasen, Kolben und Schalen, wurden in späteren Objektserien zu den formgebenden Komponenten. In seinem künstlerischen Frühwerk beschäftigte er sich mit Land-Art und ließ sich ab 1978 von Concept-Art und Arte povera anregen. Er schuf Materiallinien aus gereihten oder geschichteten Steinen. In den Strand des südenglischen Seebades Hastings zeichnete er den Umriss seines Körpers ein (Shadow Drawing, 1972). Sein eigener Körper diente ihm in dieser Serie als Medium der Erkundung von Raum und Volumen. Craggs Luftzeichnungen bestanden aus emporgeschleuderten Linien (konkret waren das Schnüre), deren ephemerer Charakter durch eine Fotoserie dokumentiert wurde.
Vor allem Assemblagen aus farbigen Plastikteilen machten ihn Anfang der 1980er-Jahre bekannt. Als einer der ersten Künstler sah Cragg im zeitgenössischen Zivilisationsschrott (z. B. Kunststoff, Metall, Gummi, Sperrholz) Bedeutungsträger unserer Zeit, die älteren Materialien ebenbürtig sind. Ab Mitte der 1980er-Jahre gestaltete er eine Reihe von großformatigen Auftragsarbeiten für den öffentlichen Raum und wählte für diese Metallgüsse nicht nur das klassische Material Bronze, sondern auch Fiberglas, Edelstahl und Cortenstahl.
In New Curly aus der Serie Early Forms schuf Cragg eine organisch geformte Plastik, deren gebogene Schwünge ausgedehnte Hohlräume bilden. Diese Metallhülse ist als Behälter für metaphorisch gedachte Zellen, Organe oder den Organismus als Ganzes1 zu sehen und bietet sowohl ein Außen als auch ein Innen dar. Sie denkt auch den Umraum mit und nimmt ihn in die Komposition hinein. Tony Cragg zufolge kann die Bronzehülle seiner Werke als „vibrierender Ort des Heute zwischen Gestern und Morgen“2 gesehen werden.
In anderen Plastiken schichtet Cragg labile Säulen aus verschiedenen Gefäßen auf. Diese „Schalen, Amphoren und Urnen häufen sich hier nicht nur windschief übereinander, sondern bauchen sich biegsam ineinander, wirbeln konzentrisch miteinander in geschmeidiger Rotation um schwankende Achsen, so rasend, dass ihr Eiern, Scheppern und Klappern geradezu hörbar zu werden scheint.“3 In einen Metallguss übertragen, werden die ursprünglichen Materialunterschiede nivelliert, wodurch die Plastiken zu abstrakten Formgebilden verdichtet werden. Manche seiner Zeichnungen dienen Tony Cragg als Vorlagen für Plastiken. In der vorliegenden Lithografie handelt es sich allerdings um eine autonome Zeichnung, die als Zwischenstadium zwischen verschiedenen Objektserien gesehen werden kann.
Tony Cragg, Ohne Titel, 1997, Bleistift auf Papier, Buchmann Galerie, Berlin
Die Lithografie ist sehr plastisch gedacht. Als dreidimensionale Objekte würden die drei dargestellten Stelen auf jeder Seite neue Aspekte veranschaulichen und dadurch Rundansichtigkeit zum Ausdruck bringen. Die in der Lithografie dargestellten Ausbuchtungen könnten stark abstrahierte Köpfe von Menschenleibern darstellen, die, vertikal geschichtet und dicht aneinandergerückt, Säulen bilden, wie das in der unbetitelten Zeichnung von 1997 der Fall war.
Craggs Kompositionen beziehen generell sehr viel visuelle Spannung aus dem Wechselspiel zwischen Abstraktion und Gegenständlichkeit. Unser Blatt ist noch stärker abstrahiert. Es fungiert als Übergang zu einer plastisch ausgeführten Serie, zu der der Ferryman (siehe Abb.) von 2001 gehört. Diese Arbeit weist durch die Perforierung der Oberfläche jene Transparenz auf, die in unserer Zeichnung durch die lockere Strichsetzung erreicht wurde.
Die vorliegende Lithografie lässt uns letztendlich im Unklaren, was exakt dargestellt ist. Dieses Moment der Spannungssteigerung führt zu einer Offenheit in der Interpretation. Craggs Werke wollen spielerisch entdeckt werden. So wie wir in Tintenklecksen verschiedene Figuren erkennen können, die immer mit unserer eigenen Geschichte zu tun haben, so liegt der Fall auch hier: Sind es abstrahierte Menschensäulen oder drei menschliche Figuren im Gespräch? Oder zeigen sich die drei Stelen, aus aufgeschichteten Gefäßen bestehend, als Repräsentation des Plunders unserer Konsumkultur? Grenzüberschreitung und Verunsicherung im Wiedererkennen und Zuordnen von visuellen Phänomenen repräsentieren Qualitäten, die auch ein überaus zutreffender Ausdruck unserer Zeitqualität sind.
Biografie
1949:
geboren in Liverpool
1966 – 1968:
Techniker am Laboratory of National Rubber Producers Research Association
1969 – 1970:
Studium am Gloucestershire College of Art and Design, Cheltenham
1970 – 1973:
Fortsetzung der Ausbildung an der Wimbledon School of Art, London
1973 – 1977:
Royal College of Art, London (Abschluss als Master of Arts)
1976:
Professur an der École des Beaux-Arts in Metz
1977:
Übersiedlung nach Wuppertal und Beginn der Ausstellungstätigkeit
1988 – 2001:
Professur an der Kunstakademie Düsseldorf
1988:
Verleihung des Turner-Preises und Teilnahme an der Biennale in Venedig
1989:
Von-der-Heydt-Preis
1996:
Ehrenprofessur in Budapest
1997:
Teilnahme an der Biennale in Venedig
2000: Ausstellung in Tate Gallery, Liverpool; Galerie Karsten Greve, Paris; Marian Goodman, New York; Springhornhof, Neuenkirchen; i8 Gallery, Reykjavik; Galerie Klüser, München; Butler Gallery, Kilkenny
2001:
Verleihung des Shakespeare-Preises, Professur für Bildhauerei an der Hochschule der Künste in Berlin, Ehrendoktortitel der University of Surrey
Ausstellungen unter anderem in der Galerie Academia, Salzburg; Musée d’art contemporain de Montréal, Montréal; Mam – Mario Mauroner Contemporary Art, Wien
2002:
Piepenbrock Preis für Skulptur
2003:
Ausstellung in der Marian Goodman Gallery, New York; Galerie Bernd Klüser, München; MACRO – Museo d’Arte Contemporanea di Roma, Rom; Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn
2004:
Ausstellung in der Buchmann Galerie, Köln
2005:
Ausstellung in Galerie Catherine Puman, Paris; Mam – Mario Mauroner Contemporary Art, Wien; Neues Museum – Staatliches Museum für Kunst und Design, Nürnberg; Galerie Bernd Klüser, München
2006:
Cragg erwirbt in Wuppertal einen 15 ha großen Park samt der denkmalgeschützten Villa Waldfrieden und lässt dort einen Skulpturenpark anlegen
2007:
Verleihung des Praemium Imperiale
2008:
Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste
2012:
deutsches Bundesverdienstkreuz 1. Klasse
2013:
vor dem historischen Zoo-Hauptgebäude in Wuppertal wird das erste Denkmal Tony Craggs aufgestellt
2014:
in der Fußgängerzone der Bonner Innenstadt wird eine 6 m hohe Bronzeplastik des Künstlers aufgestellt
2015:
Ehrenmitglied der Kunstakademie Düsseldorf
2016:
Ausstellung Tony Cragg. Sculptures in der Galerie Thaddaeus Ropac in Salzburg
Provenienz
Die Grafik wurde dem Lentos Kunstmuseum Linz als Schenkung von Maria und Gerald Fischer-Colbrie im Jahr 2010 überlassen.
Literatur
Staatliche Kunsthalle Karlsruhe (Hg.), Tony Cragg. Second Nature, Ausstellungskatalog, Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Museum der Moderne Salzburg, Köln 2009.
- Vgl. Christa Lichtenstern, „Tony Craggs erweiterte Figur“, in: Tony Cragg. Second Nature, Köln 2009, S. 231–244, hier S. 236.
- Ebd.
- Vgl. Kirsten Claudia Voigt, „Energielinien oder: Wechselwirkungen in der Wunderkammer. Zur Interaktion von Zeichnung und Skulptur im Werk von Tony Cragg“, in: Tony Cragg. Second Nature, Köln 2009, S. 11–35, hier S. 20–24.