Gouache auf Papier
Boote schaukeln munter auf dem Wasser. Lichtreflexe zeichnen weiße Streifen und Flecken auf das Papier. In der rechten unteren Bildecke betrachten zwei Passanten die sommerliche Betriebsamkeit im Hafen. La Ciotat ist eine Kleinstadt an der französischen Riviera östlich von Marseille. In der Ferne heben sich die mit Macchie bewachsenen Hügel der Grande Tête ab. Die Szenerie erweckt den Eindruck von Leichtigkeit, Unbeschwertheit, Urlaubsstimmung.
Breite Pinselstriche erzeugen malerische Effekte. Thöny verwendet in seiner Komposition Tusche und deckende Gouachefarben. Die Farbstreifen bezeichnen das Wasser und seine Lichtreflexe. Boote und ihre Spiegelungen wechseln sich in Weiß und Rot ab, Land und Wasser kontrastieren sich in Grün und Blau. Die Arbeit erhält durch diese pastosen Bahnen viel Körper und Substanz.
Die Schiffsmasten und die Takelage deutet Thöny mit locker gezogenen Tuschestrichen an. Diese vertikalen Akzente verzurren sich gemeinsam mit den waagerechten Linien beiderseits des Hafens zu einer netzartigen Struktur.
Das feine Lineament belässt vieles in einem Stadium von Andeutungen, was die Leichtigkeit der Komposition unterstreicht. Alles, was sich in natura im räumlichen Hintergrund befindet, wird in einer Art Schichtprinzip übereinandergestaffelt, sodass der Horizont im Bild kaum mehr zu sehen ist. Dieses Prinzip – mit Vorläufern in japanischen Holzschnitten – trägt zu einem flächigen Bildeindruck bei. Insgesamt lässt sich die Arbeit La Ciotat weder als reine Zeichnung noch als eindeutiges Gemälde festlegen.
Im Spätsommer 1931 zieht Wilhelm Thöny mit seiner späteren zweiten Ehefrau Thea von Graz nach Paris. Er lebt bis 1938 in der französischen Hauptstadt, ehe er nach New York übersiedelt. An Freunde in Graz berichtet der Künstler: „Wir bewohnen augenblicklich ein entzückendes Wohnatelier, herrliche Aussicht (Notre Dame, Panthéon – Eiffelturm bis zum arc de triumphe [sic!]). Thea kocht und zwar glänzend, alles ist still, die Sonne glüht auf die zwei Balkone. Bad, Warmwasser, etc. etc. – ich habe in 17 Tagen 20 große Zeichnungen zur französ. Revolution gemacht, ferner im ganzen bisher etwa 100 andere darunter 21 Pariser Stadtskizzen, gut.“1
Die Pariser Zeit bringt wieder mehr Glanz in Thönys Leben. In den vorangegangenen Jahren waren in seiner steirischen Heimat eher düstere Bilder entstanden. In der Region Île-de-France hingegen, in der sich auch Paris befindet, herrscht ein silbernes Licht, das den Künstler neu beflügelt. An Alfred Kubin schreibt Thöny voller Begeisterung: „So bin ich doch froh, im letzten Drittel des Lebens noch einmal in die ozeanischen Lichtgarben gekommen zu sein.“2
Regelmäßig hält er sich während seiner Pariser Jahre einige Wochen in Südfrankreich auf. In Sanary-sur-Mer lebt seine Schwägerin Eva Herrmann. An der französischen Riviera trifft er im Exil lebende befreundete Schriftsteller, Kunsthistoriker und Künstler wie Julius Meier-Graefe, Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger, den Komponisten Paul Hindemith und den Maler Othon Friesz.
Während eines solchen Aufenthalts in südlichen Gefilden entsteht auch die vorliegende Gouache. Der Wiener Kunsthistoriker Franz Smola bemerkt, dass sich Thönys Malerei während seiner Pariser Jahre immer deutlicher vom Naturvorbild zu distanzieren begann. Ab Mitte der 1930er Jahre führte dies zu einer „vibrierenden, fast gespinsthaften Oberfläche“3. Paul Cézanne war dem Grazer Künstler in dieser Hinsicht ein großes Vorbild. Der provenzalische Maler setzte sich mit der Montagne Sainte-Victoire in der Nähe von Aix-en-Provence besonders intensiv auseinander und näherte sich damit schrittweise der Abstraktion an.
Thöny sucht beständig Anregungen für die Weiterentwicklung seiner Malerei. Daher trifft er sich während eines Aufenthalts im Süden Frankreichs mit Cézannes Schwager Maxim Conil, da Cézanne selbst bereits 1906 verstorben war. In einem Brief an Alfred Kubin klagt der Grazer Künstler allerdings schwer enttäuscht: „Erzählte ich Ihnen, daß ich in Aix mit dem 83-jährigen Schwager Cézannes 5 Stunden spazieren ging? Und daß er, als ich ihn fragte, ob er viele Bilder von Paul habe, mir antwortete: ‚Ah, ich habe zwar meinen Schwager sehr geliebt, aber was seine Malerei betrifft – – – pardon!‘ Es war einfach grotesk und dabei irgendwie erschütternd!“4
Die in Tusche ausgeführten Teile der Arbeit La Ciotat wirken wie ein Strukturgerüst, auf das Farbstreifen befestigt wurden. Die Komposition erweckt den Eindruck, als könne sie sich wie ein Gitter von ihrem Papiergrund abheben. Und mehr als das: Thönys Arbeit erprobt die Abstraktion. Ausgehend von der gegenständlichen Vorlage wird hier die Welt des Sichtbaren schrittweise zurückgelassen. In La Ciotat nimmt Wilhelm Thöny eine künstlerische Haltung ein, die die Offenheit des Schaffensprozesses unterstreicht. Der Malakt und die Eigenwertigkeit der gestalterischen Mittel stehen im Vordergrund. Werke von Wols, Otto Herbert Hajek, Henri Michaux und Georges Mathieu zeigen ähnliche Stilansätze. Als Künstler des Informel bauen sie unter anderem auch auf den hier veranschaulichten Entwicklungsschritt auf. In den auf die 1930er-Jahre folgenden Jahrzehnten werden sie die Freiheit experimentellen Arbeitens konsequent noch weiter vorantreiben.
Provenienz
Die Grafik wurde im Jahr 1953 in einer Salzburger Galerie gekauft. Sie zählt zum Anfangsbestand der Sammlung des Lentos Kunstmuseum Linz.
Biografie
1888:
geboren am 10.2. in Graz als Sohn eines Papiergroßhändlers
Ausbildung an der Grazer Landeskunstschule bei Anton Marussig
1907 – 1914:
Studium an der Münchner Akademie bei Gabriel Hackl und Angelo Jank. Daneben Ausbildung als Pianist und Sänger
1914 – 1918:
Kriegsmaler im Ersten Weltkrieg
1923:
nach einem Aufenthalt in der Schweiz und in München Rückkehr nach Graz. Begründer und erster Präsident der Grazer Secession
1927:
Mitarbeit bei der Münchner Zeitschrift Die Jugend und der Berliner Zeitschrift Querschnitt
1929:
Professorentitel
1931 – 1938:
Paris
1932 – 1935 und 1937:
Thöny verbringt jedes Jahr einige Wochen in Südfrankreich
1934:
Österreichischer Staatspreis und Ehrenpräsidentschaft der Secession Graz
1938:
Übersiedlung nach New York
1948:
Vernichtung von fast tausend Arbeiten bei einem Brand in New York
1949:
gestorben am 1.5. in New York an einem Gehirnschlag
Literatur
Christa Steinle, Günther Holler-Schuster (Hg.), Wilhelm Thöny. Im Sog der Moderne, Ausstellungskatalog, Neue Galerie Graz, Bielefeld 2013.
- Brief an Paula Haimel, 14.2.1932, zitiert nach: Christa Steinle, Günther Holler-Schuster (Hg.), Wilhelm Thöny. Im Sog der Moderne, Ausstellungskatalog, Neue Galerie Graz, Bielefeld 2013, S. 446.
- Brief an Alfred Kubin, Paris, 23.1.1935, zitiert nach: Steinle, Holler-Schuster 2013, S. 415.
- Franz Smola, „Stil und Entwicklung in Wilhelm Thönys Werk und seine Rezeption in Österreich. Dialogische Vergleiche mit seinen Zeitgenossen vor dem Spiegel der Kunstkritik“, in: Steinle, Holler-Schuster 2013, S. 398–425, hier S. 416.
- Brief an Alfred Kubin, Paris, 29.1.1936, zitiert nach: Wilhelm Thöny. Im Sog der Moderne 2013, S. 450.