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Antoni Tàpies, Brauner Fuss , 1984

Litho­gra­fie auf Arches-Büt­ten, Stif­tung Maria und Gerald Fischer-Colbrie

Die groß­for­ma­ti­ge Litho­gra­fie zeigt einen ange­schnit­te­nen Fuß in Sei­ten­an­sicht mit einem klei­nen Kreuz. Die Flä­chen­struk­tur des Fußes wird durch eine rasch hin­ge­setz­te wei­ße Linie über­la­gert. Linie und Flä­che bezeich­nen bei­de das­sel­be: ein Kör­per­frag­ment. Da die gezeich­ne­te Linie aber über der Farb­flä­che liegt, ver­hin­dert sie, dass der Ein­druck des Kör­per­lich-Drei­di­men­sio­na­len ent­steht. Wir kön­nen im Bild zudem kei­ne Auf­tritt­flä­che für den Fuß erken­nen, wodurch er im Bild­raum zu schwe­ben scheint. Vor den Schaft des Fußes schiebt sich ein hel­les Band mit skrip­tu­ra­len Zei­chen. Man­che davon sehen wie ein X aus, könn­ten aber auch als gedreh­te Vari­an­ten eines Kreu­zes gele­sen werden.

Fuß und Kreuz sind gän­gi­ge Moti­ve im For­men­re­per­toire des Künst­lers. Bereits in den 1940er-Jah­ren kom­men in Wer­ken Tàpies’ Kreuz­dar­stel­lun­gen vor. Das Kreuz ist für den kata­la­ni­schen Künst­ler ein Ursym­bol mensch­li­cher Ori­en­tie­rung aus der mythi­schen Geo­gra­fie, das bevor es christ­lich moti­viert war, die Him­mels­rich­tun­gen noch eng mit Mythen ver­band“1. Kreu­ze füg­te Tàpies spon­tan und intui­tiv in sei­ne Wer­ke ein: Wenn ich ein Zei­chen set­ze, ein X oder ein Kreuz oder eine Spi­ra­le, emp­fin­de ich dabei eine gewis­se Freu­de. Ich sehe, daß das Bild mit die­sem Zei­chen eine bestimm­te Kraft bekommt.“2


Der Fuß zeugt von Tàpies’ Aus­ein­an­der­set­zung mit der öst­li­chen Phi­lo­so­phie, kon­kret mit dem Bud­dhis­mus, in dem der Fuß des Bud­dhas Gegen­stand reli­giö­ser Ver­eh­rung ist. Tàpies beschäf­tig­te sich aber auch mit der nord­spa­ni­schen Höh­len­ma­le­rei, kon­kret mit Alta­mi­ra, wo – wie so oft bei den bekann­ten prä­his­to­ri­schen Male­rei­en – Fuß- und Hand­ab­drü­cke eine wich­ti­ge Rol­le spielen.

Die Fuß­dar­stel­lung im Werk von Tàpies steht stell­ver­tre­tend für einen Men­schen, der durch die zei­chen­haf­te Form zwar nicht tat­säch­lich anwe­send ist, aber doch reprä­sen­tiert wird. Tàpies: Alles, was pho­to­gra­phier­bar ist, inter­es­siert mich nicht. Den Men­schen möch­te ich indi­rekt beschwö­ren, durch Abdrü­cke oder Tei­le des mensch­li­chen Kör­pers.“3


Bein­frag­men­te fin­den sich bereits in den 1960er-Jah­ren – neben Schä­del- und Rumpf­dar­stel­lun­gen – als Objek­te im Œuvre des Künst­lers. Tàpies befass­te sich aber auch mit dem mensch­li­chen Kör­per, um eine Aus­sa­ge der Ega­li­tät zu ver­mit­teln: Vie­le mei­ner Bil­der zei­gen nur einen Arm, eine Hand, eine Ach­sel­höh­le. Ich habe selbst nach den Stel­len des mensch­li­chen Kör­pers gesucht, die man nicht als nobel betrach­tet, um zu demons­trie­ren, daß sie alle gleich sind.“4


Tàpies’ gra­fi­sches Œuvre ent­wi­ckel­te sich par­al­lel zur Male­rei und Objekt­kunst. Der Künst­ler bear­bei­te­te sei­ne Litho­stei­ne selbst. Auch in der Tech­nik der Litho­gra­fie, die ja eine Flach­druck­tech­nik ist, war er auf eine plas­ti­sche Wir­kung bedacht. Er setz­te daher häu­fig Prä­ge­tech­ni­ken ein, um eine Erha­ben­heit des Bild­trä­gers zu erzie­len. In der vor­lie­gen­den Gra­fik ver­hält es sich nun anders: Die Kom­po­si­ti­on besteht aus drei Lagen: der brau­nen Flä­chen­form, der wei­ßen Kon­tur­li­nie des Fußes und dem dar­über­ge­leg­ten Band mit skrip­tu­ra­len Zei­chen. Durch die wei­ße Linie wird die Form des Fußes kon­kre­ti­siert. Sie kann aber auf­grund feh­len­der Indi­zi­en räum­lich nicht ver­or­tet wer­den. Der Fuß wird dadurch in kei­nen räum­li­chen Kon­text ein­ge­bet­tet. Er wird zu einer Idee von etwas, zu einer Chif­fre, die etwas Abwe­sen­des repräsentiert.


Tàpies’ beson­de­res Inter­es­se galt der Mys­tik und Phi­lo­so­phie von Rai­mun­dus Lul­lus (1232 – 1315/16). Der Gelehr­te war ein Uni­ver­sal­ge­nie des Mit­tel­al­ters und für die Kata­la­nen ein Natio­nal­hei­li­ger. Lul­lus kom­bi­nier­te ver­schie­de­ne Wis­sens­ge­bie­te zur Urteils- und Wahr­heits­fin­dung und stell­te ein eige­nes Bedeu­tungs­al­pha­bet auf. Er sah dar­in einen Mecha­nis­mus der Inspi­ra­ti­on, den er für sei­ne Dicht­kunst ein­setz­te. Die Tàpies-Exper­tin Bar­ba­ra Catoir dazu: Die Buch­sta­ben ste­hen für Begrif­fe und sind durch Dia­gram­me, Buch­sta­ben­fi­gu­ren und Zei­chen­sys­te­me so kom­bi­na­ti­ons­fä­hig, daß sie viel­deu­tig wer­den.“5Die­se Viel­deu­tig­keit skrip­tu­ra­ler Zei­chen setz­te auch Anto­ni Tàpies gezielt ein, um zu ver­hin­dern, dass sei­ne Wer­ke Abbild­cha­rak­ter bekom­men. Abs­trak­te Zei­chen wer­den hier zu einer Mög­lich­keit, um Wer­ke als auto­no­me Neu­schöp­fun­gen zu generieren.


Sum­ma sum­ma­rum lässt sich fest­hal­ten: Anto­ni Tàpies setz­te Buch­sta­ben, Zei­chen und Bild­kür­zel als Bedeu­tungs­trä­ger ein, um damit sei­ne Wer­ke mit der Wirk­kraft von arche­ty­pi­schen Sym­bo­len auf­zu­la­den. Er band sakra­le und kul­ti­sche Momen­te in sei­ne Kunst ein, um das in einen Geheim­nis­zu­stand ent­rück­te Unbe­kann­te [zu sug­ge­rie­ren], das sich hin­ter oder zwi­schen den Zei­chen und dem Bezeich­ne­ten ver­birgt“6.

Es obliegt sodann den Betrach­ten­den, die­ses Unsag­ba­re nach­zu­emp­fin­den, denn, so der Künst­ler: Wer ohne inne­re Bil­der lebt, ohne Ima­gi­na­ti­on und ohne die Sen­si­bi­li­tät, die man braucht, um im eige­nen Innern Gedan­ken zu asso­zi­ie­ren, wird gar nichts sehen.“.7

Bio­gra­fie

1923:

gebo­ren am 13. Dezem­ber in Barcelona

1928:

Besuch der deut­schen Schu­le in Barcelona

1943:

Beginn eines Jura-Stu­di­ums an der Uni­ver­si­tät von Barcelona

1944:

zwei­mo­na­ti­ger Besuch der Kunst­aka­de­mie Nolasc Valls

1945:

es ent­ste­hen Wer­ke mit pas­to­sem Farb­auf­trag und ers­te Mate­ri­al­col­la­gen in Misch­tech­nik (Pap­pe, Bind­fä­den, Zei­tungs- und Toilettenpapier)

1946:

Tàpies gibt das Jura-Stu­di­um auf, um sich ganz der Male­rei zu widmen

1948:

Grün­dung der Zeit­schrift Dau al Set mit einer Grup­pe jun­ger Schrift­stel­ler und Maler aus Barcelona

1949:

ers­te sur­rea­lis­ti­sche Bil­der. Ein­fluss von Joan Miró, Paul Klee, Max Ernst, Yves Tanguy

1950:

ers­te Ein­zel­aus­stel­lung in der Gale­ries Lai­eta­nes in Bar­ce­lo­na. Sti­pen­di­um der fran­zö­si­schen Regie­rung und ein­jäh­ri­ger Auf­ent­halt in Paris. Seit­her häu­fi­ge Rei­sen nach Paris

1952:

Teil­nah­me an der Bien­na­le von Venedig

1953:

Preis der Bien­na­le von São Paulo

1954:

Teil­nah­me an der Bien­na­le von Venedig

1956:

Beschäf­ti­gung mit öst­li­cher Phi­lo­so­phie: Vedan­ta, Yoga, Tan­tra, Bud­dhis­mus und Zen

1958:

Son­der­aus­stel­lung bei der XXIX. Bien­na­le in Venedig

1959:

Arbeit mit alten, ärm­li­chen Mate­ria­li­en (Pap­pe, Kar­ton, Stoff­fet­zen, Bind­fä­den, Schnüre)

1959:

Teil­nah­me an der docu­men­ta II in Kassel

1964:

Preis der Gug­gen­heim Foun­da­ti­on, New York. Teil­nah­me an der docu­men­ta III in Kassel

1968:

Rei­se nach Wien anläss­lich der von Wer­ner Hof­mann zusam­men­ge­stell­ten Retro­spek­ti­ve im Muse­um des 20. Jahrhunderts

1968:

Teil­nah­me an der docu­men­ta IV in Kassel

1971:

Instal­la­ti­on eines Wand­bil­des im Foy­er des Thea­ters in St. Gal­len. Das Werk löst einen Skan­dal aus

1976:

Rei­se nach Saint-Paul-de-Vence, wo Tàpies an der Eröff­nung sei­ner Retro­spek­ti­ve in der Fon­da­ti­on Maeght teilnimmt

1977:

Retro­spek­ti­ve in meh­re­ren Städ­ten der USA und in Kana­da sowie Teil­nah­me an der docu­men­ta VI in Kassel

1980:

Ein­zel­aus­stel­lung in der Neu­en Gale­rie der Stadt Linz (heu­te Lentos Kunst­mu­se­um Linz)

1981:

mit Unter­stüt­zung des deut­schen Kera­mi­kers Hans Spin­ner gestal­tet Tàpies sei­ne ers­ten Kera­mik­skulp­tu­ren und fer­tigt im Auf­trag der Stadt Bar­ce­lo­na die ers­ten Skiz­zen für eine monu­men­ta­le Skulp­tur zu Ehren Pablo Picas­sos an

1984:

Grün­dung der Fund­a­ció Anto­ni Tàpies im ehe­ma­li­gen Ver­lags­haus Mon­ta­ner i Simón in der Cal­le de Ara­gón in Barcelona

1986:

Aus­stel­lung im Künst­ler­haus Wien

1989:

Aus­stel­lung in der Kunst­samm­lung Nordrhein-Westfalen

1990:

Aus­stel­lung im Museo Nacio­nal Cen­tro de Arte Rei­na Sofia, Madrid

1992:

Aus­stel­lung im Kunst­mu­se­um St. Gallen

1994:

Aus­stel­lung im Jeu de Pau­me in Paris

1998:

Aus­stel­lung in der Kunst­hal­le Krems

2000:

Aus­stel­lung im Museo Nacio­nal Cen­tro de Arte Rei­na Sofia, Madrid

2005:

Aus­stel­lung im Essl Muse­um, Klosterneuburg

2010:

Ver­lei­hung des erb­li­chen Adels­ti­tels Mar­qués de Tàpies

2011/12:

Retro­spek­ti­ve Bild, Kör­per, Pathos im Muse­um für Gegen­warts­kunst Sie­gen. Wan­der­aus­stel­lung: Kunst­mu­se­um Reykja­vik, Musée d’art moder­ne de Céret

2012:

gestor­ben am 6. Febru­ar in Barcelona

Pro­ve­ni­enz

Die Litho­gra­fie ging im Mai 2010 als Schen­kung von Maria und Gerald Fischer-Col­brie in den Samm­lungs­be­stand des Lentos Kunst­mu­se­um Linz über.

Lite­ra­tur

Bar­ba­ra Catoir, Gesprä­che mit Anto­ni Tàpies. Mit einer Ein­füh­rung zum Gesamt­werk, Mün­chen 1987.

  1. Barbara Catoir, Gespräche mit Antoni Tàpies. Mit einer Einführung zum Gesamtwerk, München 1987, S. 27.
  2. Ebd., S. 75.
  3. Ebd., S. 79.
  4. Ebd.
  5. Ebd., S. 15.
  6. Ebd., S. 47.
  7. Antoni Tàpies, Praxis der Kunst, St. Gallen 1976, S. 34.

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